Standpunkt

Hilmar Schneider: Angstmacher Zeitarbeit

Zeitarbeit verdrängt andere Beschäftigungsverhältnisse, so lautet eine weit verbreitete Meinung. Die These ist nicht haltbar, sagt Hilmar Schneider, Direktor für Arbeitsmarktpolitik am Wirtschaftsforschungsinstitut IZA. Vielmehr "gibt es ein starkes Indiz dafür, dass Zeitarbeit ein wichtiges Sprungbrett bei der Rückkehr von Arbeitslosen in den Arbeitsmarkt darstellt."

9. November 2011

Für den beispiellosen Boom der Zeitarbeit in den letzten zehn Jahren gibt es zwei Erklärungsmöglichkeiten: Die erste lautet, durch die Liberalisierung der Zeitarbeit wird reguläre Beschäftigung verdrängt. Auslöser dürfte vor allem der Wegfall des sogenannten Synchronisationsverbots gewesen sein, der zum 01. Januar 2003 in Kraft trat. Die zweite Erklärung lautet, die Liberalisierung der Zeitarbeit hat ein zusätzliches Segment für Beschäftigung erschlossen, das andernfalls nicht existieren würde. Es werden keine regulären Arbeitsplätze verdrängt, sondern neue Beschäftigungsmöglichkeiten erschlossen. Ungeachtet der Fakten dominiert in der öffentlichen Diskussion eindeutig der Verdrängungsmythos.

Nur jede siebte Stelle

So erfolgt angeblich inzwischen jede dritte Neueinstellung in der Zeitarbeit, was einen Beleg für Verdrängung suggerieren soll. Aber selbst wenn tatsächlich jede dritte Neueinstellung in der Zeitarbeit erfolgte, wäre das für sich genommen weder für die eine noch die andere These schon ein Beleg. Fest steht nur, dass das behauptete Faktum falsch ist.

Hintergrund der Behauptung ist eine mediale Fehlinterpretation der Antwort der Bundesregierung vom August 2010 auf eine Anfrage der Abgeordneten Krellmann von der Fraktion Die Linke im Deutschen Bundestag. Demnach wurde im Zeitraum Februar bis Juli 2010 fast jede dritte offene Stelle als Zeitarbeitsstelle ausgeschrieben. Dass ausgeschriebene Stelle nicht gleich besetzte Stelle ist, scheint in den zahlreichen darauf basierenden Medienberichten übersehen worden zu sein.

Faktisch wurden in Deutschland im Jahr 2010 knapp 7,5 Millionen Beschäftigungsverhältnisse neu abgeschlossen, davon 1,1 Millionen in der Zeitarbeit. In Wahrheit erfolgt also nur jede siebte Neueinstellung in der Zeitarbeit.

Beschäftigungsdauer 9 Monate

Dass selbst mit diesem Wert die gesamtwirtschaftliche Bedeutung der Zeitarbeit stark überschätzt wird, lässt sich leicht anhand der durchschnittlichen Beschäftigungsdauer erkennen. Zeitarbeit kommt typischerweise dort zum Einsatz, wo kurzfristige Auslastungsschwankungen oder ein vorübergehender Personalausfall abgefangen werden müssen. Deswegen liegt die durchschnittliche Beschäftigungsdauer in der Leiharbeit bei knapp 9 Monaten, in der übrigen Wirtschaft dagegen bei 50 Monaten. Statistisch betrachtet ersetzt ein Leiharbeitnehmer folglich nur ein Sechstel einer „normalen“ Einstellung.

Verdrängungsthese stimmt nicht

Wenn jede siebte Neueinstellung nur ein Sechstel einer „normalen“ Einstellung wiegt, dann liegt der wahre Anteil der Zeitarbeit bei den Neueinstellungen nicht etwa bei einem Drittel, sondern bei einem Zweiundvierzigstel, also gerade mal 2,5 Prozent. Das entspricht dann auch in etwa dem Anteil der Zeitarbeit am Gesamtbestand der Beschäftigung. Von der Verdrängungsthese bleibt damit nicht mehr viel übrig.

Bleibt die Tatsache, dass die Zeitarbeit in den letzten Jahren ein rasantes Wachstum verzeichnen konnte. Von 2003 bis 2008 war die Zahl der Zeitarbeiter von 300.000 auf über 800.000 gestiegen. Hinzu kommt, dass die Zeitarbeit deutlich überproportionale Anteile am Beschäftigungswachstum für sich verbuchen kann. So meldet die Bundesagentur für Arbeit, dass die Hälfte des Beschäftigungswachstums 2010 auf das Konto der Zeitarbeit ging. Aber weder hohe Zuwachsraten noch ein hoher Anteil am Beschäftigungswachstum taugen als Beweis für Verdrängung. Bei Licht betrachtet passen sie viel besser zur Wachstumsthese.

Sprungbrett zurück in den Arbeitsmarkt

Von den 7,5 Millionen Stellen, die im Jahr 2010 insgesamt neu besetzt wurden, wurde gut ein Drittel (2,65 Millionen) von zuvor Arbeitslosen besetzt. Von den 1,1 Millionen neu besetzten Zeitarbeitsstellen wurden hingegen zwei Drittel von zuvor Arbeitslosen oder Nicht-Erwerbstätigen besetzt. Dies ist ein starkes Indiz dafür, dass Zeitarbeit ein wichtiges Sprungbrett bei der Rückkehr von Arbeitslosen in den Arbeitsmarkt darstellt.

Bei genauerer Betrachtung der Bestandsentwicklung der Zeitarbeit zeichnet sich überdies ein neuer Sättigungspunkt ab. Durch die Liberalisierung der Zeitarbeit scheint ein neues Gleichgewichtsverhältnis zwischen Festanstellung und Zeitarbeit ausgelöst worden zu sein, das allmählich erreicht wird. Nach dem gegenwärtig erkennbaren Trend dürfte der Bestand der Zeitarbeiter unterhalb der Ein-Millionen-Grenze bleiben.

Die gegenwärtigen Bestrebungen von Politik und Gewerkschaften zur Eindämmung der Zeitarbeit bergen die Gefahr, den Betroffenen einen Bärendienst zu erweisen. Die Forderung nach Durchsetzung des Equal-Pay-Prinzips und die Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns sorgen dafür, dass Zeitarbeit für Unternehmen unattraktiv wird.

Durch die einseitige Blickverengung auf ein höheres Einkommen für die beschäftigten Zeitarbeitnehmer werden die wesentlich drastischeren Einkommenseinbußen für entlassene oder gar nicht erst beschäftigte Zeitarbeitnehmer übersehen. Ähnlich wie in der Mindestlohndebatte wird hier mit der Suggestion gearbeitet, dass die einzige Alternative zu einem schlecht bezahlten Job in der Zeitarbeit in einer politisch verfügten besseren Bezahlung bestünde. Dass Unternehmen in diesem Fall auch von der Möglichkeit Gebrauch machen können, auf den Einsatz von Zeitarbeit zu verzichten, wird zu Lasten der Betroffenen schlicht ignoriert.

Klassische Win-Win-Situation

Die wahre Story hinter der Erfolgsgeschichte der Zeitarbeit folgt mutmaßlich einer anderen Logik: Bis 2002 waren Zeitarbeitsfirmen gesetzlich gezwungen, ihre Mitarbeiter dauerhaft einzustellen, und zwar unabhängig davon, ob es Verleihmöglichkeiten für sie gab oder nicht. Zeitarbeitsfirmen mussten also das Risiko der Nicht-Verleihbarkeit in ihre Preise einkalkulieren. Zeitarbeit war entsprechend teuer und die Nachfrage entsprechend gering.

Seitdem die Beschäftigungsdauer auf die absehbare Verleihdauer befristet werden kann, brauchen Zeitarbeitsfirmen das Verleihrisiko nicht mehr zu berücksichtigen. Die Preise für Zeitarbeit sind folglich erheblich gesunken, und zugleich ist, wenig verwunderlich, die Inanspruchnahme deutlich gestiegen. Davon profitieren nicht nur die Firmen, denen mehr Flexibilitätsspielraum zugewachsen ist, sondern in erheblichem Umfang auch die Arbeitslosen, die zuvor dauerhaft ohne Job geblieben wären: Eine klassische Win-Win-Situation.

Logische Konsequenz dieser Entwicklung ist die starke Zunahme kurzfristiger Beschäftigungsverhältnisse in der Zeitarbeit, was sich statistisch in einem stark gestiegenen Anteil von Neueinstellungen in der Branche niederschlägt. Doch nun wird genau dieser Erfolg zum Skandal ausgerufen. Es wird so getan, als ob die Betroffenen durch die Liberalisierung der Zeitarbeit um eine dauerhafte Anstellung in einer Stammbelegschaft gebracht würden. Hier ist offenbar schon wieder völlig in Vergessenheit geraten, was bis zu den Hartz-Reformen drei Jahrzehnte lang in Deutschland zu immer neuen Schüben im Anstieg der Sockelarbeitslosigkeit beigetragen hat: eine äußerst verhaltene Einstellungsbereitschaft der Firmen als Folge hoher Risiken durch Fehlbesetzungen.

Auf den Punkt gebracht, sind den Gewerkschaften 400.000 Langzeitarbeitslose, die von Hartz IV leben müssen, lieber als 400.000 Zeitarbeitnehmer, die zwar mit geringen Löhnen auskommen müssen, aber damit immer noch besser dastehen als mit Hartz IV allein.

Fazit: Die insbesondere von den Gewerkschaften verbreitete Schauerkampagne gegen die Zeitarbeit, die die Bevölkerung glauben machen soll, dass wir alsbald nur noch als Prekariat von Zeitarbeitern existieren, geht völlig an der Realität vorbei. Die Liberalisierung der Zeitarbeit hat vielmehr ein Wachstumspotenzial für Beschäftigung erschlossen, das vorher nicht existierte. Der Preis für eine Re-Regulierung der Zeitarbeit besteht in der Zerstörung dieses Wachstumspotenzials.

Mehr zum Thema "Arbeitsmarkt"

Agenda 2010

Rolle rückwärts: Warum Martin Schulz irrt

Die Agenda 2010, die unter dem damaligen SPD-Kanzler Gerhard Schröder 2003 auf den Weg gebracht wurde, gilt heute international als Vorbild für eine gelungene Reform des Sozialstaates und des Arbeitsmarktes. Dennoch hat der designierte Kanzlerkandidat der SPD, Martin Schulz, angekündigt, Teile der Reform zurückdrehen zu wollen. Ein Fehler.

24. Februar 2017
Agenda 2010

Lieber Martin Schulz, erinnern Sie sich noch?

Im Jahr 1999 bezeichnete das britische Wirtschaftsmagazin „Economist“ Deutschland als „kranken Mann Europas“. Damals waren 4 Millionen Menschen arbeitslos – und es ging weiter abwärts. Bis ausgerechnet ein SPD-Bundeskanzler die Reißleine zog.

21. Februar 2017
INSM-Integrationsmonitor

Wenn aus Flüchtlingen Erwerbspersonen werden

Erste Daten deuten darauf hin, dass immer mehr Flüchtlinge nun auch den Arbeitsmarkt erreichen. Sowohl die Anzahl der Beschäftigten aus den Hauptherkunftsländern steigt, als auch die Zahl der Arbeitslosen aus diesen Regionen. Der INSM-Integrationsmonitor analysiert die vorliegenden Daten und zeigt wo weiterer Reformbedarf besteht.

30. Juni 2016
Studie zu Arbeit 4.0

Keine Beschäftigungsverluste durch Digitalisierung

Die Beschäftigten in Deutschland müssen sich nicht vor der Digitalisierung der Arbeitswelt fürchten. Die Möglichkeit negativer Beschäftigungseffekte wird zwar immer wieder politisch thematisiert und diskutiert, wissenschaftlich lassen sich aber bisher keine Belege für diese Vermutung finden.

9. Juni 2016
Sozialsystem

Studie: Wie die Arbeitswelt der Zukunft aussieht

Müssen im Zuge einer fortschreitenden Digitalisierung negative Beschäftigungsentwicklungen befürchtet werden? Die vorliegende Studie "Arbeitswelt und Arbeitsmarktordnung der Zukunft" von Dr. Oliver Stettes (IW Köln) zeigt dafür keine empirischen Anhaltspunkte. Manch anderes wird sich dafür grundlegend ändern.

9. Juni 2016
Allensbach-Studie

Vor dem digitalen Zeitalter muss niemand geschützt werden

Die Digitalisierung der Arbeitswelt hat längst begonnen. Aber sie bereitet den Beschäftigten kaum Sorgen. Im Gegenteil: Die klare Mehrheit sieht darin für sich vor allem Vorteile. Noch wichtiger: Drei Viertel sehen sich den künftigen Anforderungen gut gewachsen. Darüber, ob der Gesetzgeber deshalb besser die Füße stillhalten sollte, wurde heute in Berlin diskutiert.

31. Mai 2016