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Thesenpapier Prof. Steinmeyer

Verfassungsrechtliche Fragen im Zusammenhang mit der Grundrente

Thesenpapier zu verfassungsrechtlichen Fragen im Zusammenhang mit der Grundrente und dem Entwurf eines Gesetzes zur Einführung der Grundrente für langjährig in der gesetzlichen Rentenversicherung Versicherte mit unterdurchschnittlichem Einkommen und weitere Maßnahmen zur Erhöhung der Alterseinkommen.

Von Prof. Dr. Heinz-Dietrich Steinmeyer, Universität Münster

31. Mai 2019

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I.

Das Recht der gesetzlichen Rentenversicherung ist geprägt vom Äquivalenzprinzip. Die gesetzliche Rentenversicherung ist ein beitragsbezogenes System, das die Aufgabe hat, für Lohnersatz im Fall des Alters und bei Erwerbsminderung zu sorgen und im Fall der Hinterbliebenenleistungen für den Unterhaltsersatz. Es gewährt Leistungen aufgrund der eingezahlten Beiträge ohne Rücksicht darauf, ob der Versicherte eine solche Leistung zur Bestreitung seines Lebensunterhalts auch tatsächlich braucht. Bei der Rentenversicherung führt das Versicherungsprinzip dazu, dass grundsätzlich eine Äquivalenz zwischen Beiträgen und Leistungen bestehen muss. Das der Sozialversicherung immanente Solidaritätsprinzip erlaubt insoweit Abweichungen. Es wird dabei unterschieden zwischen der Globaläquivalenz – also der Äquivalenz zwischen Einnahmen und Ausgaben der gesetzlichen Rentenversicherung  - und der Individualäquivalenz, also der zwischen dem Beitrag des einzelnen Versicherten und der ihm gewährten Leistung, was bei der Grundrente von Bedeutung ist. Das Äquivalenzprinzip in der Ausgestaltung in der gesetzlichen Rentenversicherung lässt Ausnahmen zum Zweck des sozialen Ausgleichs zu. Allerdings stehen diese Ausnahmen unter dem Prüfvorbehalt des Art. 3 Abs. 1 GG. Wenn also ein Versicherter für seine Beiträge einen anderen Rentenbetrag erhält als ein anderer oder ein anderer mit geringeren Beiträgen die gleiche Rentenleistung erhält, so bedarf dies einer Rechtfertigung, die vor Art. 3 Abs. 1 GG bestehen muss.

Das Bundesverfassungsgericht lässt eine solche Ungleichbehandlung passieren, wenn das betreffende Gesetz einen sozialstaatlich motivierten typisierenden Ausgleich von Nachteilen anordnet. Ist eine solche Kompensation erlittener Nachteile nicht gegeben, so ist die Abweichung vom Äquivalenzprinzip mit Art. 3 Abs. 1 GG nicht vereinbar. Der vorliegende Referentenentwurf stellt allerdings nicht auf die Kompensation - konkreter - erlittener Nachteile ab, sondern wertet pauschal die Entgeltpunkte für unterdurchschnittliche Einkommen auf ohne Rücksicht darauf, warum es zu diesen niedrigen Einkommen gekommen ist, und geht dann noch einen Schritt weiter, indem er eine Aufwertung auch für die über 35 Jahre hinausgehenden Versicherungsjahre vorsieht. Auf die Kompensation eines Nachteils kommt es danach also nicht an – das Gesetz schießt insoweit in verfassungswidriger Weise über das Ziel hinaus. Der Beitragszahler, der 35 Jahre lang jeweils 0,8 Entgeltpunkte erworben hat, wird damit ohne sachlichen Grund ebenso behandelt wie derjenige, der nur die Hälfte der Beiträge entrichtet hat; Ungleiches wird also gleich behandelt. Das pauschale Vorgehen des Gesetzes ohne Rücksicht auf tatsächlichen Nachteilsausgleich rechtfertigt dies nicht. Es fehlt an der erforderlichen Zielgenauigkeit. Diese Ungleichbehandlung wird noch krasser, wenn ein Versicherter diese Aufwertung auch für über die 35 hinausgehende Versicherungsjahre erhält.

Als positives Gegenbeispiel sei hier genannt die Regelung des § 70 Abs. 3a SGB VI, wonach für Kalendermonate der Kindererziehung bzw. der Pflege eines pflegebedürftigen Kindes zusätzliche Entgeltpunkte gutgeschrieben werden. Hier wird konkret der Nachteil ausgeglichen, der durch Kindererziehung in der Erwerbsbiografie entsteht.

Damit erweist sich der Ansatz einer pauschalen Grundrente ohne Rücksicht auf besondere Nachteile oder Notlagen als verfassungswidrig.

Festzustellen ist auch, dass die Grundrente nicht geeignet ist, im Regelfall eine Bedürftigkeitsprüfung zu vermeiden. Ein Rentenbetrag oberhalb der Grundsicherung nach dem SGB XII wird ohnehin nur erreicht bei Versicherten, die eine Aufwertung auf 0,8 Entgeltpunkte erhalten; wer darunter lag, erreicht diese Grenze nicht. Auch der oberhalb der Grundsicherung liegende Rentenbetrag dürfte nicht ausreichen, um eine Bedürftigkeitsprüfung vermeiden zu können, da etwa die Wohnkosten so regelmäßig nicht voll abgedeckt werden können und im Übrigen auch beim Wohngeld eine Einkommensprüfung vorgesehen ist.

II.
Der Referentenentwurf sieht einen Freibetrag bei der Grundsicherung für Grundrentenbezieher vor. Das bedeutet, dass nur derjenige diesen Freibetrag erhält, der die Voraussetzungen für die Grundrente erfüllt. Wer also zeitlich (35 Versicherungsjahre) oder vom Einkommen her diese Voraussetzungen nicht erfüllt, erhält ihn nicht. Insofern ist darauf hinzuweisen, dass das Sozialhilferecht die Aufgabe hat, in Ausführung des Gedankens von Art. 1 Abs. 1 GG (Menschenwürde) denjenigen ein menschenwürdiges Dasein zu ermöglichen, die dazu mit eigenen Mitteln und Fähigkeiten nicht in der Lage sind. Maßgebend ist dabei die Feststellung des individuell zu ermittelnden Bedarfs. Dieser Bedarf darf bis zu einem bestimmten Ausmaß pauschaliert werden, wie etwa die Regelsätze zeigen; maßgeblich ist aber die Bedarfslage. Diese unterscheidet sich aber für denjenigen nicht, der etwa die zeitliche Voraussetzung der Grundrente nicht erfüllt, von demjenigen, der sie erfüllt. Es ist aber nicht Aufgabe der Sozialhilfe, eine allgemeine Verbesserung einer bestimmten Gruppe von Rentenbeziehern zu gewährleisten. Wenn deshalb bei der Gewährung des Freibetrags zwischen dem Grundrentenberechtigten und demjenigen unterschieden wird, der diese Voraussetzung nicht erfüllt, so erfolgt hier eine Ungleichbehandlung, die sich angesichts der Funktion von bedürftigkeitsabhängigen Leistungen nicht rechtfertigen lässt. Diese Regelung ist also wegen Verstoßes gegen Art. 3 Abs. 1 GG verfassungswidrig.

III.

Insgesamt zeigt sich, dass eine pauschale Aufwertung von Rentenanwartschaften und -leistungen – wie im Referentenentwurf vorgesehen – zu einer Ungleichbehandlung von Beitragszahlern führt, die sich durch den sozialen Ausgleich im Sinne eines Ausgleichs von Nachteilen nicht rechtfertigen lässt. Auch wenn man dem Gesetzgeber mit dem Bundesverfassungsgericht Gestaltungsfreiheit einräumt, fehlt es hier in verfassungswidriger Weise an der Zielgenauigkeit.

Auf verfassungsrechtliche Bedenken stößt auch die Ausgestaltung des Freibetrags bei der Grundsicherung, wo die Grundrentenberechtigung Voraussetzung ist. Die Sozialhilfe/Grundsicherung hat die Aufgabe, bestimmte Bedürftigkeitssituationen zu erfassen, und nicht die Aufgabe, Rentenleistungen zu verbessern oder bestimmte Rentenbezieher gegenüber anderen zu begünstigen.

Es wird im Referentenentwurf der Versuch gemacht, ein beitragsbezogenes System in Teilen zu einem Bedürftigkeit abdeckenden System zu machen, ohne die Bedürftigkeit konkret zu prüfen. Das führt zu Pauschalierungen, die sich mit dem Gedanken des sozialen Ausgleichs nicht mehr rechtfertigen lassen, zumal andere Systeme zur Verfügung stehen. Es zeigt sich, dass eine Vermischung von Systemen zu Widersprüchlichkeiten führt, die die Grenze zur Verfassungswidrigkeit überschreiten.

Prof. Dr. Heinz-Dietrich Steinmeyer

Prof. Dr. Heinz-Dietrich Steinmeyer, Universität Münster