Deutschland steht vor einer richtungsweisenden Frage: Wollen wir im Rahmen einer Gemeinschaft mit den USA die Standards des Welthandels mitgestalten, oder begnügen wir uns mit einer passiven Rolle und lassen uns in die zweite Reihe abschieben? Ohne TTIP setzen andere die Standards. Ein Kommentar von Hubertus Pellengahr, Geschäftsführer der INSM.
22. April 2016Handelsabkommen-ÜbersichtPM: FreihandelTTIP-Sympathie-Ticker
Das bei der "Ötzi" genannten 6000 Jahre alten Gletschermumie gefundene Kupferbeil beweist es: Fernhandel ist fast so alt wie die Menschheit. Zwischen Ötzis Fundort und dem Herkunftsort seines Beils liegen rund 300 Kilometer Luftlinie und zahlreiche steinerne Hindernisse. Damals eine halbe Weltreise.
Heute behindern nicht mehr geologische Hindernisse den Welthandel, sondern politische. Daran soll - zumindest teilweise – die Transatlantische Handels- und Investitionspartnerschaft TTIP etwas ändern.
Globalisierter Handel ermöglicht allen Beteiligten vom gemeinsamen Wachstum zu profitieren. Über Spezialisierung und Arbeitsteilung werden Handelsgewinne realisiert und der Wohlstand vergrößert. Wie globalisiert und vernetzt die Wirtschaft ist, zeigt die jährlich stattfindende Industriemesse in Hannover. Aussteller aus vielen Ländern präsentieren Produktneuheiten, die alle, sei es direkt oder indirekt, den Verbraucherinnen und Verbrauchern zu Gute kommen. Das ist Marktwirtschaft. So entsteht Wohlstand. Doch trotz solcher unbestrittenen volkswirtschaftlichen Zusammenhänge, hat selten ein Thema die Menschen auf beiden Seiten des Atlantiks so bewegt wie die Debatte um TTIP.
Die Bedeutung des Abkommens lässt sich mit einigen volkswirtschaftlichen Zahlen der beiden Handelspartner belegen: Die EU und die USA erwirtschaften zusammen knapp die Hälfte der globalen Wirtschaftsleistung. Knapp ein Drittel des weltweiten Handels entsteht zwischen diesen beiden Wirtschaftsräumen. In Deutschland hängen rund 600.000 Arbeitsplätze von den Warenexporten in die Vereinigten Staaten ab – Dienstleistungen noch nicht einmal mit einberechnet.
Die meisten Wirtschaftswissenschaftler gehen davon aus, dass TTIP das Wohlstandsniveau auf beiden Kontinenten anheben würde. Es würden zusätzliche Arbeitsplätze entstehen und die Einkommen der Menschen steigen. Konsumenten profitieren von sinkenden Preisen durch wegfallende Zölle und einer größeren Produktvielfalt.
Auch der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung unterstreicht in seinem jüngsten Gutachten die Tragweite des Abkommens: "Angesichts der Bedeutung des internationalen Handels sind Handelserleichterungen und Investitionsschutz im Rahmen des Handelsabkommens mit den Vereinigten Staaten für Deutschland besonders wichtig. Der Abbau nicht-tarifärer Handelshemmnisse bietet ein enormes Potential." Neben Zöllen und anderen Handelsbarrieren zählen dazu unterschiedliche Regulierungen, Produktstandards und technische Vorschriften, die den Handel und die Zusammenarbeit hemmen. Das treibt die Preise hoch und stellt vor allem für kleinere und mittlere Unternehmen erhebliche Barrieren dar.
Im Klartext heißt das: TTIP schafft Wohlstand! Dennoch wurden die Verhandlungen von Anfang an von lautstarken Protesten begleitet. Das viel zitierte Chlorhühnchen ist dabei mehr als nur ein Symbol: Es offenbart ein tiefes Misstrauen in die Verhandlungsparteien, gepaart mit einer grundsätzlichen Globalisierungsskepsis. Gleichzeitig stimmen Daten der Welthandelsorganisation WTO bedenklich: Seit 2008 wurden etwa 1.000 neue Handelsbarrieren in den G-20 Staaten eingeführt und nur etwa 300 abgeschafft.
Diese anhaltende TTIP-Skepsis ist brisant: Ein Scheitern des Abkommens würde einer anti-marktwirtschaftlichen und globalisierungsskeptischen Haltung weiter Vorschub leisten. Dabei finden die TTIP-Verhandlungen in einem demokratisch legitimierten und transparenten Rahmen statt. Wer das immer wieder in Zweifel zieht und Angst vor amerikanischen Produkten, Dienstleistungen und Investitionen schür, leistet den gleichen Kräften Vorschub, die an anderer Stelle von Volksverrätern und Überfremdung reden. Freihandel ist gelebte Völkerverständigung.
Bereits im vergangenen Jahr warnte Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriel vor dem Scheitern der Verhandlungen und wies zurecht auf die geopolitische Bedeutung des Abkommens hin. Wir stehen vor der Wahl: Wollen wir mittelfristig im Rahmen einer Gemeinschaft mit den USA die Standards des Welthandels mitgestalten oder begnügen wir uns mit einer passiven Rolle in der zweiten Reihe? Ohne TTIP setzen andere die Standards. Das kann zu größeren Hindernissen führen, als sich selbst ein Bergsteiger wie Ötzi je vorstellen konnte.