Zukunft der Sozialen Marktwirtschaft
Soziale Marktwirtschaft

Entstehungsgeschichte einer menschenwürdigen Gesellschaftsordnung

Die Sozialen Marktwirtschaft hat das deutsche Wirtschaftswunder hervorgebracht. Aber wie ist sie eigentlich entstanden? Wir zeichnen hier die Geschichte der Sozialen Marktwirtschaft von ihren Urahnen wie Aristoteles über Max Weber, Walter Eucken und Ludwig Erhard nach. Denn: Nur wer die Vergangenheit kennt, kann die Gegenwart verstehen - und so die Zukunft gestalten.

22. Juni 2018

INSM-Leitfaden Marktwirtschaft

Die Soziale Marktwirtschaft ist nicht nur eine Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung. Manche sehen in ihr einen historischen Mythos, da sie untrennbar mit dem deutschen Wirtschaftswunder verbunden ist [1], andere einen politischen Hegemon, an dem in der deutschen Wirtschaftspolitik niemand vorbeikommt [2], wieder andere eine riesige Projektionsfläche für ganz unterschiedliche Wünsche, Ängste und Vorurteile. Tatsächlich ist die Soziale Marktwirtschaft sehr flexibel, dehnbar und lässt viel mit sich machen. Für eine Wirtschaftsordnung ist sie gerade deshalb recht populär, zumindest populärer als die reine, adjektivlose Marktwirtschaft oder die sozialistische Planwirtschaft. Ihre Popularität kann aber ein Problem werden, wenn vor lauter Interpretation die wahre Identität der Sozialen Marktwirtschaft verschwimmt.

Um diese Identität, diesen Kern freizulegen, werden wir die wesentlichen Gründungsväter der Sozialen Marktwirtschaft identifizieren und ihre gemeinsamen Ziele und Ordnungsideale beschreiben.

 

Inhaltsverzeichnis

Ideengeschichtliche Wurzeln der Sozialen Marktwirtschaft

Prägende Zwischenkriegszeit

Theoretische Grundlagen für eine menschenwürdige Nachkriegsordnung

Von Vordenkern zu Praktikern

Was den Gründervätern wichtig war

Die ideengeschichtlichen Wurzeln der Sozialen Marktwirtschaft reichen tief

 


Im ideengeschichtlichen Stammbaum der Sozialen Marktwirtschaft tauchen eine Reihe von bekannten Philosophen, Ökonomen und Theologen auf. Zu den Urahnen zählen Aristoteles, Thomas von Aquin, Montesquieu, Adam Smith oder auch Wilhelm von Humboldt.

Zu den jüngeren Traditionslinien der Sozialen Marktwirtschaft gehören:

  • die christlichen Soziallehren, die etwa Alfred Müller-Armacks Sicht prägten;
  • Max Weber, dessen Kulturpessimismus eine ganze sozialwissenschaftliche Forschergeneration beeinflusste [3];
  • die ersten Vertreter der Neoklassik, die die Freiburger Ordoliberalen rezipierten [4];
  • die jüngere und jüngste Historische Schule, die sich wie die Ordoliberalen den tatsächlichen Wirtschaftsabläufen zuwandten (ebenda);
  • die Österreichische Schule, angefangen bei Carl Menger über Joseph Schumpeter, Ludwig von Mises oder Friedrich August von Hayek. Ihre zum Teil scharfe Kritik am Sozialismus und am Interventionismus beeindruckte die deutschen Ordoliberalen;
  • Franz Oppenheimer, der als liberaler Sozialist einige Väter der Sozialen Marktwirtschaft beeinflusste. Er gab seine Abneigung gegenüber Kartellen, Monopolen und mächtigen Interessengruppen vor allem an Ludwig Erhard weiter.

 

Prägende Zwischenkriegszeit

 

Neben den wissenschaftlichen Lehrern prägten auch die zeitlichen Umstände die Väter der Sozialen Marktwirtschaft. Ihre vier zentralen Wegbereiter, Walter Eucken (1891–1950), Wilhelm Röpke (1899–1966), Ludwig Erhard (1897–1977) und Alfred Müller-Armack (1901–1978) haben noch bewusst das Wilhelminische Deutsche Reich erlebt. Noch prägender waren für sie die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Katastrophen beider Weltkriege und die unstete Zwischenkriegszeit. Sie erlebten, wie die Konzerne ihre Macht ausnutzten und die Politik mit ihnen kungelte. Dies sollte nie wieder passieren. Alle vier strebten nach einer menschenwürdigen, privilegienfreien, stabilen und marktwirtschaftlichen Nachkriegsordnung.

 

Theoretische Grundlagen für eine menschenwürdige Nachkriegsordnung

 


Während sich Europa noch in Schutt und Asche bombte, arbeiteten die Väter der Sozialen Marktwirtschaft bereits sehr konkret an den theoretischen Grundlagen der Sozialen Marktwirtschaft. Das Hauptquartier des Ordoliberalismus stand in Freiburg. Dort hatten 1936 die Juristen Franz Böhm und Hans Großmann-Doerth mit dem Ökonomen Walter Eucken die Idee einer eigenständigen Ordnungspolitik entwickelt, „die auf die Gestaltung eines bestimmten Ordnungsrahmens zielt, der sowohl der wirtschaftlichen Entwicklung als auch der Freiheit der Menschen zuträglich ist“ [4]. 1940 entwickelte Eucken in den Grundlagen der Nationalökonomie [5] die Grundprinzipien einer staatlich gesicherten Wettbewerbsordnung weiter, um die Bürger bestmöglich mit Gütern zu versorgen und vor willkürlicher privater und staatlicher Macht zu schützen. Im November 1941 beschrieb er in seiner Studie Wettbewerb als Grundprinzip der Wirtschaftsverfassung [6] den schwierigen Weg in eine Marktwirtschaft nach dem Krieg. Dieser Weg solle ein dritter Weg sein, zwischen Laissez-faire und Planwirtschaft. Ende 1942 konkretisierte Eucken gemeinsam mit Constantin von Dietze, Adolf Lampe und dem Historiker Gerhard Ritter einen geheimen Entwurf für eine künftige Wirtschaftsordnung in einer Freiburger Denkschrift [12]. Dabei mischten sich protestantisch-konservative Ideen mit Elementen einer marktwirtschaftlichen Ordnungspolitik. In seinen posthum 1952 veröffentlichten Grundsätzen der Wirtschaftspolitik [7] formulierte er dann die konstituierenden und regulierenden Prinzipien, die noch heute als theoretischer Kern der Sozialen Marktwirtschaft gelten. Er beschrieb eine „Gesamtordnung“, die den „Menschen das Leben nach ethischen Prinzipien“ ermöglichen sollte.

 

Euckens konstituierende und regulierende Prinzipien.

Quelle: eigene Darstellung

In ihrem Exil arbeiteten auch die beiden prominenten Sozialhumanisten Alexander Rüstow und Wilhelm Röpke an einem staats- und gesellschaftspolitischen Konzept, das dem Markt eine rein dienende Funktion zuschreibt. Röpkes von den Nationalsozialisten verbotene Trilogie Gesellschaftskrisis der Gegenwart, Civitas humana und Internationale Ordnung gelangte in der Endphase des Krieges auch in die Hände von Ludwig Erhard. Nach eigenem Bekunden saugte er sie auf „wie die Wüste das Wasser“ [9].

Im sozialhumanistischen Geist erstellte Alfred Müller-Armack ebenfalls während des Zweiten Weltkriegs Vorstudien, die 1946 mit kleinen Änderungen als erster Teil von „Wirtschaftslenkung und Marktwirtschaft“ erschienen [10]. Darin tauchte erstmals das Wortpaar Soziale Marktwirtschaft auf. In der Marktwirtschaft sah er ein „überaus zweckmäßiges Organisationsmittel“, welchem aber nicht die Aufgabe zuzumuten sei, „eine letztgültige soziale Ordnung zu schaffen und die Notwendigkeiten des staatlichen und kulturellen Lebens von sich aus zu berücksichtigen.“ Die Soziale Marktwirtschaft war für Müller-Armack nicht einfach ein Mittelweg zwischen Kapitalismus und Sozialismus, keine vage Mischung und auch kein Parteienkompromiss, sondern eine „aus den vollen Einsichtsmöglichkeiten unserer Gegenwart gewonnene Synthese“, die historisch gewachsene Gräben überwinden könnte. Sein Ziel war es, das „Prinzip der Freiheit auf dem Markt mit dem sozialen Ausgleich zu verbinden.“

Ludwig Erhard legte Anfang 1944 in einer Denkschrift ebenso einfache wie radikale Schritte zur Schuldenkonsolidierung und zur Reduzierung des gewaltigen Geldüberhangs dar. Als Ziel formulierte er eine „freie, auf echtem Leistungswettbewerb beruhende Marktwirtschaft mit den jener Wirtschaft immanenten Regularien“ [11]. Gleichzeitig war er sich bewusst, dass eine Wirtschaftsordnung nur dann verwirklicht werden kann, wenn sie der „Vorstellung des Volkes in wirtschaftlicher und sozialer Hinsicht entspricht“ [12] (PDF).

Während die Freiburger Ordoliberalen zielgerichtet an einem ordoliberalen Konzept für eine wirtschaftliche Nachkriegsordnung in Deutschland arbeiteten, entwickelte Friedrich August von Hayek 1939 in London die Vision einer europäischen Föderation souveräner Staaten [13]. 1944 warnte Hayek in Der Weg zur Knechtschaft [14] eindrücklich vor den Gefahren von Tyrannei und Planwirtschaft. Hayek beeinflusste die deutsche Diskussion außer mit seinen Schriften auch über die Diskussionen im Colloque Walter Lippmann sowie ab 1947 im von ihm gegründeten Netzwerk der Mont Pèlerin Society. Dieses Netzwerk richtete sich einvernehmlich gegen Planwirtschaft und Sozialismus. Doch es gab auch deutliche Meinungsunterschiede: Während der österreichisch-amerikanische Flügel sich für eine adjektivlose Marktwirtschaft einsetzte, vertraten die deutschen Ordoliberalen das Konzept der Sozialen Marktwirtschaft inklusive einer aktiveren Verantwortung des Staates.

Von Vordenkern zu Praktikern

 


Viele der Männer, die vor und während des Zweiten Weltkriegs die geistigen Grundlagen der Sozialen Marktwirtschaft legten, engagierten sich in der Gründungsphase der Bundesrepublik an zentralen Stellen aktiv, um ihre Ideen in der praktischen Politik – als Berater, leitende Ministerialbeamte und Politiker – auch umzusetzen.

Als im Januar 1948 erstmals ein Wissenschaftlicher Beirat der bizonalen Verwaltung für Wirtschaft zusammenkam, war die ordoliberale Fraktion mit Walter Eucken, Franz Böhm, Leonard Miksch und Adolf Lampe prominent vertreten [11]. Eucken brachte mit Hilfe seiner Unterstützer im April 1948 im Abschlussbericht die Forderung unter, im Zuge der Währungsreform die Preiskontrollen zu beenden.

Ludwig Erhard setzte dieses Votum nur wenige Wochen später tatsächlich um. Er rückte nach dem Zweiten Weltkrieg zunächst als Wirtschaftsminister ins bayerische Kabinett auf, um anschließend nach Bad Homburg zur Sonderstelle Geld und Kredit zu wechseln. Dort erarbeitete er mit dem Homburger Plan bis zum Januar 1948 ein konkretes Konzept für die geplante Währungsreform. Im März 1948 wurde Erhard überraschend zum Direktor der Wirtschaftsverwaltung ernannt. Er ließ unter Federführung seines Mitarbeiters Miksch und mit der Hilfe von Müller-Armack ein Leitsätzegesetz erarbeiten, das eine Generalvollmacht für Erhard vorsah, die Preiskontrollen abzuschaffen. Dieses brachte Erhard im Windschatten der Währungsreform auch gegen massive Kritik in der amerikanischen Administration und dem Wirtschaftsrat durch. Ein echter Coup des „Überzeugungstäters“ Ludwig Erhard [11] und seiner ordoliberalen Unterstützer, der allerdings nur erfolgreich war, da der amerikanische General Lucius Clay ihn gewähren ließ.

Dass Erhard sich auf seine ordoliberalen Brüder im Geiste verlassen konnte, zeigte sich in diesen entscheidenden Monaten auch, als Röpke seine Politik im August 1948 in einem von Konrad Adenauer in Auftrag gegebenen Gutachten vehement gegen Kritiker verteidigte. Er sah in ihrem Erfolg einen „Experimentalbeweis“ für die Überlegenheit der Marktwirtschaft, „wie ihn die Wirtschaftsgeschichte kein zweites Mal kennt“ [15].

Wie ein Stürmer, der seine eigene Flanke ins Tor köpft, wechselte auch Alfred Müller-Armack von der Wissenschaft in die Verwaltung, um das von ihm benannte Konzept Soziale Marktwirtschaft mit Leben zu füllen. Ludwig Erhard holte ihn ab 1950 ins Bundeswirtschaftsministerium – zunächst als Leiter der Grundsatzabteilung, später als Staatssekretär. Er war damit ein entscheidendes Bindeglied zwischen dem wissenschaftlichen, ordoliberalen Konzept und der politischen Integrationsformel Soziale Marktwirtschaft. Zweynert zufolge ist die Soziale Marktwirtschaft das Resultat einer höchst effizienten Arbeitsteilung zwischen Wissenschaft und Politik, wobei Müller-Armack diese Arbeitsteilung in einer Person vereinte (PDF).

Mit der Wirtschafts- und der Währungsreform wurden Euckens zentrale konstituierende Prinzipien bereits umgesetzt: ein freies Preissystem, eine auf Preisstabilität ausgerichtete Währungspolitik, offene Märkte, Vertragsfreiheit, Eigentumsrechte. Um auch die Konstanz der Wirtschaftspolitik zu gewährleisten, hieß die vorderste Aufgabe von Erhard und Müller-Armack in den frühen 50er Jahren, am eingeschlagenen Kurs auch gegen die heftige Kritik aus der SPD, den Gewerkschaften sowie von Teilen der CDU festzuhalten.

Erhard war in einer schwierigen Position. Eigentlich stand er dem theoretischen Konzept der Ordoliberalen näher als einem politischen Konzept der Sozialen Marktwirtschaft, das dem Staat weitreichende Lenkungsaufgaben zubilligte. Doch als Politiker erkannte Erhard, dass es angesichts der verbreiteten Skepsis gegenüber der Marktwirtschaft einer politischen Integrationsformel bedurfte, die den mentalen Befindlichkeiten der Bevölkerung Rechnung tragen könnte [12]. Er löste diese Aufgabe, indem er engagiert für seine Interpretation der Sozialen Marktwirtschaft warb, aber auch bereit war, Kompromisse einzugehen. Diese Kompromisse waren etwa auf dem langen Weg zum Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen (GWB), der Magna Charta des deutschen Wettbewerbsrechts, nötig, welches nach großen Auseinandersetzungen mit der an Kartelle gewöhnten deutschen Industrie 1957 verabschiedet wurde.

 

Was den Gründervätern wichtig war

 


Bei aller unterschiedlichen Akzentuierung lassen sich drei wesentliche Ziele identifizieren, auf die sowohl Walter Eucken, Wilhelm Röpke, Alfred Müller-Armack als auch Ludwig Erhard abzielten:

  • Bestmögliche Versorgung mit Gütern: Im Nachkriegsdeutschland war zunächst das wesentliche Ziel der Väter der Sozialen Marktwirtschaft, die sich zuspitzende Versorgungskrise zu überwinden und die Schwäche der industriellen Produktion zu beheben. Auch als diese Ziele erreicht wurden, blieb die wirtschaftliche Entwicklung und der „Wohlstand für alle“ ein verbindendes Ziel.
  • Dem Ziel der Freiburger um Walter Eucken, sowohl private als auch staatliche Macht zu beschränken, konnten sich alle Gründungsväter anschließen. Aus den Erfahrungen der Zwischenkriegszeit heraus setzten sie sich für eine privilegienfreie Ordnung ein, die wirtschaftlichen Wettbewerb ermöglichen und Freiheitsrechte des Einzelnen sichern sollte. Müller-Armack stellte fest, dass geistige und politische Freiheit nie auf Dauer gesichert sind, „wo ein geschlossener politischer oder wirtschaftlicher Machtapparat“ [10] vorhanden ist.
  • Einig waren sich die Gründungsväter schließlich, dass die Marktwirtschaft alleine nicht ausreicht, um eine menschenwürdige, moralische Ordnung zu gewährleisten. Ihnen allen ging es neben einer Wirtschaftsordnung auch um eine übergeordnete Gesellschaftsordnung bzw. um eine „umfassende geistige Lebensordnung“ [16], bei der es sich um „Moral, Recht, natürliche Bedingungen der Existenz und des Glücks, Staat, Politik und Macht handelt“ [17]. Ihnen ging es darum, die „geistig-seelische Existenz des Menschen mit sehr nüchternen Fragen der wirtschaftlichen Lenkungsmechanik“ zu verbinden [7] sowie ideologische Gegensätze zwischen den politischen Lagern [12] zu versöhnen.

Weitgehende Einigkeit herrschte unter den Gründungsvätern auch bei den Wegen, wie die Ideale der verbindenden Gerechtigkeit, der (Privilegien-)Freiheit und des wirtschaftlichen Wachstums erreicht und in ein vernünftiges Gleichgewicht zu bringen seien:

  • Der Wettbewerb gilt einerseits als Garant für eine effiziente Güterversorgung, andererseits auch als „genialstes Entmachtungsinstrument der Geschichte“ [18]. Müller-Armack zufolge dürfte unter „dem Gesichtspunkt der Freiheit“ daher „die Marktwirtschaft auch dann noch vorzuziehen sein, wenn ihre ökonomischen Leistungen geringer wären als die der Wirtschaftslenkung.
  • Der Wettbewerb braucht aus Sicht aller Gründungsväter einen Ordnungsrahmen, den ein starker Staat gestaltet. Da der Staat nicht in die Handlungsebene eingreift, ist er weniger beeinflussbar durch Sonderinteressen. Ein solcher Ordnungsrahmen ist Voraussetzung für einen effizienten Leistungswettbewerb und eine freiheitliche Rechtsordnung. In den Prinzipien der Rechtsgleichheit und der Privilegienfreiheit sahen die Ordoliberalen die Ethik der Marktwirtschaft begründet.
  • Wie das letzte Ziel erreicht werden soll, nämlich die Verbindung von verschiedenen interdependenten Ordnungen, sozialen und wirtschaftlichen Fragen, Gerechtigkeit und Effizienz, Wirtschaftslenkung und Marktwirtschaft, wird von den Gründungsvätern teilweise unterschiedlich beantwortet. Eucken und Erhard sahen die menschenwürdige Ordnung weitgehend mit einer privilegienlosen Marktwirtschaft, die soziale Frage mit einer freien Wettbewerbsordnung verwirklicht. Oft zitiert wurde Erhard, der feststellte: „Je freier die Wirtschaft, um so sozialer ist sie auch.“ [19]. Müller-Armack wollte hingegen der Marktwirtschaft ethische Qualität durch ein „vielgestaltiges und vollständiges System“ [20] sozialpolitischer Interventionen verleihen, wobei er auch betonte, dass ein solches System die Funktionsfähigkeit einer Wettbewerbswirtschaft nicht beeinträchtigen und die Eigenverantwortung und Initiative der Bürger nicht lähmen dürfe.

Wie sich zeigt, verfolgten die Gründungsväter mit der Sozialen Marktwirtschaft die gleichen Instrumente und Ziele, lediglich die soziale Frage beantwortete Müller-Armack teilweise anders als Erhard, Röpke und Eucken. 

Quelle: eigene Darstellung

Müller-Armack umschreibt damit auch in der umstrittenen sozialen Frage eine unstrittige gemeinsame Linie – den sozialen Kern der Sozialen Marktwirtschaft. Nach Issing  [21] (PDF) gehört dazu „Fürsorge für alle, die aus unverschuldeten Gründen nicht in der Lage sind, für ihren Lebensunterhalt zu sorgen“, während für alle anderen die Wettbewerbswirtschaft ein wirtschaftliches Niveau sichert, die Eigenverantwortung stärkt und eine generelle staatliche Fürsorge überflüssig macht. Zudem sei „ein Bildungssystem unerlässlich, das jedem die Chance eröffnet, seine Fähigkeiten zu entfalten und den entsprechenden Platz in der Gesellschaft zu finden.“ Doch auch die Bildung ist in der Sozialen Marktwirtschaft nicht alleine Aufgabe des Staates. Jeder Einzelne – jeder Vater, jede Mutter, jedes Kind – ist in der Verantwortung, individuelle Talente zu entwickeln und auszuschöpfen.

 

 

Fazit

Die Soziale Marktwirtschaft ist eine politische Formel, dank der die wissenschaftliche, ordoliberale Konzeption auch für die eher marktkritische deutsche Bevölkerung akzeptabel wurde. Als offener Stil-Gedanke wurde sie immer wieder neu ausgelegt. Doch bei allen Interpretationsspielräumen, die gerade Müller-Armack in seinen Beiträgen öffnete, sind sich alle Gründungsväter bei den wesentlichen Zielen und Instrumenten einig: Der Staat soll einen Ordnungsrahmen für einen privilegienlosen Leistungswettbewerb setzen, der private und staatliche Macht begrenzt, eine effiziente Güterversorgung gewährleistet und als umfassende Lebensordnung auch einen Rahmen für die geistig-seelische Existenz der Menschen bietet. Er sollte für Bedürftige sorgen, ohne die Wettbewerbswirtschaft zu beeinträchtigen und die Eigenverantwortung der Bürger zu lähmen.

Dies ist der Kern der Sozialen Marktwirtschaft. Dieser Kern ist auch heute noch das richtige Leitbild, um Antworten auf die drängenden wirtschaftlichen, politischen und gesellschaftlichen Fragen zu finden, um die demographischen Probleme zu lösen, um die Chancen der Digitalisierung zu nutzen, um gesellschaftliche Gräben zu überwinden, um eine offene Weltwirtschaftsordnung zu verteidigen und um einen Weg in Europa zwischen einer Ever Closer Union und einem Weg zurück zu den Nationalstaaten zu finden. Im Kern ist die Soziale Marktwirtschaft damit kein historischer Mythos, kein politischer Hegemon und auch keine leere Projektionsfläche, sondern eine bewährte, zeitlose und umfassende menschenwürdige Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung.

 

Literatur

 

[1] Haselbach, Dieter (1991): Autoritärer Liberalismus und soziale Marktwirtschaft: Gesellschaft und Politik im Ordoliberalismus, Baden-Baden: Nomos.

[2] Nonhoff, Martin (2006): Politischer Diskurs und Hegemonie. Das Projekt „Soziale Marktwirtschaft“, Bielefeld: Transkript Verlag.

[3] Körner, Heiko (2007): Wurzeln der Sozialen Marktwirtschaft, in: Hauff (Hrsg.): Die Zukunftsfähigkeit der Sozialen Marktwirtschaft, Marburg: Metropolis-Verlag.

[4] Goldschmidt, Nils und Michael Wohlgemuth (2008): Entstehung und Vermächtnis der Freiburger Tradition der Ordnungsökonomik, in: Goldschmidt/Wohlgemuth (Hrsg.): Grundtexte zur Freiburger Tradition der Ordnungsökonomik, Tübingen: Mohr-Siebeck, S. 457–466.

[5] Eucken, Walter (1940/1950): Grundlagen der Nationalökonomie, 5. Aufl., Berlin: Springer.

[6] Eucken, Walter (1941): Wettbewerb als Grundprinzip der Wirtschaftsverfassung, [S.l.]

[7] Eucken, Walter (1952/1959): Grundsätze der Wirtschaftspolitik, Hamburg: Rowohlt.

[8] Schüller, Alfred (2011): Ordoliberalismus, in: Lexikon der Sozialen Marktwirtschaft. Bonn: Konrad-Adenauer-Stiftung.

[9] Erhard, Ludwig (1959): Glückwunschadressen zu Wilhelm Röpkes 60. Geburtstag, in: Röpke, Wilhelm: Gegen die Brandung, Stuttgart: Rentsch, S. 12–19.

[10] Müller-Armack, Alfred (1946/1990): Wirtschaftslenkung und Marktwirtschaft, München: Kastell.

[11] Plickert, Philip (2008): Wandlungen des Neoliberalismus. Eine Studie zu Entwicklung und Ausstrahlung der „Mont Pelerin Society“, Stuttgart: Lucius.

[12] Zweynert, Joachim (2008): Die Soziale Marktwirtschaft als politische Integrationsformel. Wirtschaftsdienst, 88(5), S. 334–337.

[13] Hayek, Friedrich A. von (1939/1952): Die wirtschaftlichen Voraussetzungen föderativer Zusammenschlüsse, in: Ders., Individualismus und wirtschaftliche Ordnung, Erlenbach-Zürich: Eugen Rentsch, S. 324–344. 

[14] Hayek, Friedrich A. von (1945 /2004): Der Weg zur Knechtschaft, Tübingen: Mohr Siebeck.

[15] Röpke, Wilhelm (1950): Ist die deutsche Wirtschaftspolitik richtig? Analyse und Kritik, Stuttgart: Kohlhammer.

[16] Zweynert, Joachim (2007): Die Entstehung ordnungsökonomischer Paradigmen – theoriegeschichtliche Betrachtungen, HWWI Research Paper.

[17] Röpke, Wilhelm (1956/2009): Jenseits von Angebot und Nachfrage. Die Marktwirtschaft ist nicht alles, in: Hennecke, Hans Jörg (Hrsg.): Wilhelm Röpke. Marktwirtschaft ist nicht genug. Gesammelte Aufsätze, Waltrop: Manuscriptum, S. 303–314.

[18] Böhm, Franz (1963): Die Bedrohung der Freiheit durch private ökonomische Macht in der heutigen Gesellschaft, in: Universitas, 18, S. 37–48.

[19] Erhard, Ludwig (1964/2009): Wohlstand für Alle, Köln: Anaconda.

[20] Müller-Armack, Alfred (1976): Wirtschaftsordnung und Wirtschaftspolitik. Studien und Konzepte der Sozialen Marktwirtschaft und zur Europäischen Integration, 2. Aufl., Bern/Stuttgart: Haupt.

[21] Issing, Ottmar (2014): Die Deutschen und die Marktwirtschaft, INSM-Ökonomenblog.

Weiterführende Quellenangaben

Blümle, Gerold und Nils Goldschmidt (2010): Zur Aktualität der Euckenschen Ordnungsethik für eine Erneuerung der Sozialen Marktwirtschaft, in: Vanberg, Gehrig und Tscheulin (Hrsg.): Freiburger Schule und die Zukunft der sozialen Marktwirtschaft, Berlin: Berliner Wissenschafts-Verlag 2010, S. 13–32.

Müller-Armack, Alfred (1952/2008): Stil und Ordnung der Sozialen Marktwirtschaft, in: Goldschmidt/Wohlgemuth (Hrsg.): Grundtexte zur Freiburger Tradition der Ordnungsökonomik, Tübingen: Mohr-Siebeck, S. 457–466.

Röpke, Wilhelm (1945): Internationale Ordnung, Stuttgart: Rentsch.

 

 

Bildnachweise

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