Gesellschaftliche Missstände, große Ungleichheiten und eine fehlende Absicherung, gerade der Benachteiligten einer Gesellschaft, trieb auch die Gründungsväter der Sozialen Marktwirtschaft um. Um diesen sozialen Problemen zu begegnen, setzten sie – wie der Name Soziale Marktwirtschaft schon sagt – auf marktwirtschaftliche Prinzipien. Doch wie genau kann das Soziale mit der Marktwirtschaft zu einem schlüssigen Wirtschafts- und Gesellschaftskonzept verbunden werden?
18. Januar 2019
Die vier Gründungsväter der Sozialen Marktwirtschaft Walter Eucken, Wilhelm Röpke, Ludwig Erhard und Alfred Müller-Armack waren sich in vielem einig. Etwa bei den Zielen, die mit der Sozialen Marktwirtschaft erreicht werden sollen (Wirtschaftliche Wohlfahrt, politische Freiheit und sozialer Ausgleich). Oder bei den Instrumenten, um diese Ziele zu erreichen (Leistungswettbewerb, der durch einen Ordnungsrahmens ermöglicht wird). Auch bei den Prinzipien, die bei der Ausgestaltung des Ordnungsrahmens leitend sind (Verantwortung, Eigentum und Freiheit, um nur die Wichtigsten zu nennen). Nur was das „Soziale“ in der Sozialen Marktwirtschaft nun genau heißen soll, was sozialer Ausgleich bedeutet und wie die Prinzipien in sozialpolitische Maßnahmen umzusetzen sind, da setzten die Gründungsväter unterschiedliche Akzente.
Vermutlich machten die Interpretationsspielräume den Erfolg der Sozialen Marktwirtschaft erst möglich. Das Konzept war zum einen flexibel genug, um von verschiedenen politischen Strömungen genutzt und vereinnahmt zu werden. Verschiedenste sozialpolitische Maßnahmen wurden zum Bestandteil der Sozialen Marktwirtschaft ernannt. Im Ergebnis wuchs der Wohlfahrtsstaat. So wurde der Kern der umlagefinanzierten Sozialversicherungssysteme durch vielfältige Förder-, Hilfs- und Umverteilungsinstrumente ergänzt.Zum anderen konnte die Soziale Marktwirtschaft immer wieder nachjustiert werden, und sich so an wechselnde Herausforderungen anpassen. Diese Eigenschaft wird in den nächsten Jahrzehnten vermutlich wieder gebraucht werden, wenn der Wohlfahrtsstaat auf die demographische Herausforderung trifft.
Als die Gründungsväter das Konzept der Sozialen Marktwirtschaft entwarfen, war weder die derzeitige Größe des Wohlfahrtsstaates noch die demographische Entwicklung absehbar. Die Frage ist deshalb berechtigt: Sind ihre Konzepte und Prinzipien noch zeitgemäß? Um diese Frage zu beantworten, werden wir uns in einem ersten Schritt die sozialpolitischen Vorstellungen der Gründungsvätern ansehen. In einem zweiten Schritt werden wir uns die große sozialpolitische - es ist eine demografische - Herausforderung genauer ansehen, die uns in den nächsten Jahrzehnten erwartet. Und in einem dritten Schritt werden wir die Standpunkte der Gründungsväter auf die aktuellen sozialpolitischen und demographischen Probleme “anwenden” und nach Lösungen suchen.
Walter Eucken ist der zentrale Ideengeber der Sozialen Marktwirtschaft. Er beschreibt die leitenden Prinzipien für eine menschenwürdige Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung ganz konkret. Dabei betont er immer wieder, dass es nicht um die Lösung einzelner Ordnungsfragen in Wirtschaft, Recht oder Gesellschaft geht, sondern um eine umfassende Lebensordnung, welche die Interdependenz der Ordnungen berücksichtigt.
So fordert er auch in der Sozialpolitik, dass die „punktuelle Behandlung der Probleme“ zurücktreten müsse. „Aber nicht, weil das Anliegen der Sozialpolitik (...) nebensächlich geworden wäre. Im Gegenteil. Weil es so vordringlich ist, muss es für das gesamte Denken über die Wirtschaftsordnung mitbestimmend sein.“ (Eucken, 1, 313)
Da also alle gesellschaftlichen Bereiche zusammengehören, können laut Eucken „die soziale Frage nur durch eine zureichende Gesamtordnung gelöst werden. Und so ist die soziale Frage ein Teil der großen Frage nach einer zureichenden freien Wirtschaftsordnung. Gerade soziale Gründe zwingen dazu, diese Linie der Wettbewerbsordnung zu verfolgen.“
Für Eucken ist die soziale Frage des 20. Jahrhunderts die Frage nach der Freiheit des Menschen. Diese Freiheit sieht er durch eine Vermachtung in Konzernen und Syndikaten sowie durch eine zunehmende staatliche Lenkungen des Wirtschaftsprozesses in Gefahr (Eucken, 1, 127). Folglich sah Eucken die soziale Frage weitgehend mit einer freien Wettbewerbsordnung und einer privilegienlosen Marktwirtschaft verwirklicht, in der die Macht der Konzerne ebenso beschränkt ist wie die Eingriffsmöglichkeiten des Staates.
Eucken sieht als Wurzel der sozialen Frage und des Bedürfnisses nach Sicherheit nicht nur die materielle Not, sondern auch in der zunehmenden Arbeitsteilung. Die könne den Menschen von einem komplizierten Gesamtprozess abhängig machen. Diese Abhängigkeit könne dazu führen, dass Menschen an „den Rand der gesellschaftlichen Existenzbedingungen gedrückt“ werden. Erhard: „Das bedeutet nicht nur Gefährdung der wirtschaftlichen Existenz, sondern ein Brachliegen seiner Kräfte und eine unverdiente Demütigung seines Selbstgefühls.“
Wilhelm Röpke war nicht nur ein Ideengeber der Sozialen Marktwirtschaft. Er war in ihren ersten Jahrzehnten auch einer der schärfsten Kritiker des sich ausweiteten Wohlfahrtsstaates, oder, in den Worten Röpkes, ein Kritiker einer unaufhaltsamen „Ausdehnung der Massenfürsorge auf immer weitere Schichten, die, ließe man sie unbehelligt, schon für sich selber sorgen würden.“ (Röpke, 2, 293)
So kritisiert Röpke beispielsweise, dass in der Krankenversicherung „aus dem ursprünglichen Prinzip, daß besonders schwachen Schultern das oft untragbare Risiko einer kostspieligen Operation und längeren Siechtums abgenommen wurde, ... mehr und mehr die Sozialisierung des Gesundheitsdienstes geworden. (Röpke, 2, 294)“ ist.
Röpke sieht die Gefahr, dass der Wohlfahrtsstaat - entgegen seinem proklamierten Ziele - die „wirtschaftlich-soziale Schichtung zu versteinern neigt“ (Röpke, 2, 301), da eine progressive Einkommensbesteuerung die Gründung neuer Unternehmen und die Übernahme geschäftlicher Risiken erschwere.
Ludwig Erhard betont, ähnlich wie Röpke und Eucken, dass der staatliche Zwangsschutz dort haltmachen sollte, „wo der Einzelne und seine Familie in der Lage sind, selbstverantwortlich und individuell Vorsorge zu treffen“. [3] Weiter schreibt er: „Soziale Sicherheit ist gewiß gut und in hohem Maße wünschenswert, aber soziale Sicherheit muß zuerst aus eigener Kraft, aus eigener Leistung und aus eigenem Streben erwachsen. Soziale Sicherung ist nicht gleichbedeutend mit Sozialversicherung für alle, - nicht mit der Übertragung der individuellen menschlichen Verantwortung auf irgendein Kollektiv.“ [3] Erhard will folglich den Bereich der kollektiven Sicherung eingedämmt wissen, „d.h. ihn eher enger als weiter zu fassen.“ [3].
Laut Erhard stünde es „im sozialen Leben um manche Not im Volke besser, wenn wir nicht zu viel sozialen Kollektivwillen, sondern mehr soziale Gesinnung und Haltung bezeugen wollten.“ [3]
Ähnlich wie Eucken sieht auch Erhard in einer wettbewerblichen Marktwirtschaft die wichtigste Antwort auf die soziale Frage. Oft zitiert wurde Erhards Satz: „Je freier die Wirtschaft, um so sozialer ist sie auch.“ [3]. Hingegen verliert der Mensch aus Erhards Sicht an Sicherheit, umso mehr er vom Staat und vom Kollektiv abhängig wird. Denn für Erhard ist die beste Sicherheit die Selbstsicherheit und damit die Gewissheit, das eigene Schicksal selbst gestalten zu können.
Alfred Müller-Armack, der Namensgeber der Sozialen Marktwirtschaft, stimmt mit den anderen Gründungsväter insofern überein, dass sich „einige sozialpolitische Vorteile ... bereits aus einer marktwirtschaftlichen Ordnung als solcher“ [4] ergeben. Darüber hinaus will Müller-Armack aber der Marktwirtschaft ethische Qualität durch ein „vielgestaltiges und vollständiges System“ [5] sozialpolitischer Interventionen verleihen, wobei er auch betonte, dass ein solches System die Funktionsfähigkeit einer Wettbewerbswirtschaft nicht beeinträchtigen und die Eigenverantwortung und Initiative der Bürger nicht lähmen dürfe.
Den „Idealfall eines marktgerechten Eingriffs“ [5] sieht Müller-Armack in einer Steuer auf höhere Einkommen, die „etwa in Form von Kinderbeihilfen, Mietzuschüssen oder Wohnungsbauzuschüssen weitergeleitet“ wird.
Er fordert den Übergang von einer direkten Preisintervention zu einer indirekteren Umgestaltung der Einkommens- und Besitzverhältnisse, die sich „von jeder Blockierung des wirtschaftlichen Marktes fernhält.“ [5]
Zwischenfazit
Die Ideengeber der Sozialen Marktwirtschaft sind sich einig, dass die Sozialpolitik ein integraler Bestandteil des Gesamtkonzepts ist und weitgehend bereits durch eine marktwirtschaftliche Wettbewerbsordnung verwirklicht wird.
Der Sozialpolitik im Sinne der vier Gründungsväter geht es nicht primär um materielle Umverteilung als um die Möglichkeiten, die jeder einzelne hat, seine eigene Existenz aus eigenen Kräften zu sichern. Sozialpolitik korrigiert nicht, sondern befähigt. Wer eigenverantwortlich Vorsorge treffen kann, sollte dem Subsidiaritätsprinzip entsprechend keine staatliche Hilfe bekommen.
Es geht also nicht um ein Gegeneinander von Marktwirtschaft und Sozialpolitik, sondern um ein Miteinander. Statt punktuell in die Märkte zu intervenieren, sollen die Kräfte von Markt und Wettbewerb genutzt werden, um jedem Einzelnen die Aussicht auf Wohlstand zu ermöglichen. Dazu bedarf es umfassender Spielregeln für die gesamte Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung.