Fortschritte beim Umbau der Stromversorgung in Deutschland
Energiewende-Radar

Aspekt 4: Versorgungssicherheit

Die Stromversorgung muss gewährleistet sein, allerdings ist sie in sonnen- und windschwachen Wintermonaten mit einem sehr hohen Stromverbrauch gefährdet. Deswegen muss auf mittlere Sicht der Ausbau von effizienten fossilen Anlagen ermöglicht werden.

5. November 2012

Vom Ziel gedacht

Neben der Wirtschaftlichkeit und der Umweltverträglichkeit gehört die Sicherheit der Energieversorgung zu den drei übergeordneten Zielen des energiepolitischen Zieldreiecks. Eine kontinuierliche und stabile Energieversorgung soll zu jeder Zeit in Deutschland gewährleistet sein. Energie muss laufend zuverlässig verfügbar sein; unfreiwillige Energieversorgungsausfälle soll es nicht geben. Dazu gehört die sichere Versorgung mit Primärenergieträgern wie Öl und Gas. Hier ist insbesondere eine Vielfalt der Lieferländer und Transportwege relevant. Zur Versorgungssicherheit gehört aber auch eine kontinuierliche Stromversorgung. Aufgrund der fehlenden Speichermöglichkeit muss elektrischer Strom simultan erzeugt und verbraucht werden. Zu jeder Zeit muss genau so viel Strom produziert werden, wie Strom verbraucht wird.

Die Versorgungssicherheit der Stromversorgung zeigt sich insbesondere an den geringen Ausfallzeiten. Die Netzstabilität kann in Deutschland als ausgesprochen gut angesehen werden. So war in Deutschland 2009 rund 15 Minuten lang kein Strom verfügbar. Dies entspricht einem durchschnittlichen Ausfall von gerade einmal 0,003 Prozent der Zeit eines Jahres. In Italien lagen die Ausfallzeiten im gleichen Zeitraum mit 88 Minuten deutlich höher, in Frankreich mit 159 Minuten mehr als zehnmal so hoch wie in Deutschland. Hieran gemessen ist die Versorgungssicherheit in Deutschland derzeit als hoch zu bewerten. Dieser Wettbewerbsvorteil muss für die Zukunft erhalten werden.

Die Energiewende stellt die Stromerzeugung auf eine neue Basis. Der wachsende Anteil erneuerbarer Energien führt zu einem Angebot, das zu größeren Teilen von natürlichen Schwankungen abhängt. Damit wird der Ausgleichsbedarf für den nicht durch erneuerbare Energien zu deckenden Strombedarf ebenfalls größer. Die nötige Flexibilität kann zu Teilen durch Stromspeicher, Importe oder die Anpassung der kurzfristigen Nachfrage bereitgestellt werden. Von besonderer Bedeutung für die Energiewende bleiben jedoch fossile Kraftwerke. Zum einen müssen sie die erneuerbaren Energien ersetzen, wenn Sonne und Wind nicht ausreichen. Zum anderen müssen sie immer noch einen großen Teil des Stroms zur Verfügung stellen. Schließlich wird selbst 2030 nur mit einem Anteil der erneuerbaren Energien von 50 Prozent gerechnet – der Rest muss weitestgehend fossil erzeugt werden. Im Bau der notwendigen fossilen Kraftwerke und der Sicherung der notwendigen Kapazitäten liegt eine der Kernherausforderungen der Energiewende. 

Zielerreichung: INSM-Energiewende-Radar

Ein einfach messbar definiertes Ziel der Bundesregierung zur Versorgungssicherheit liegt nicht vor. Einen Eindruck zur kurzfristigen Situation gibt die Zahl der notwendigen Eingriffe in das Netz zur Sicherung der Netzstabilität. Längerfristig ist jedoch für den Erfolg der Energiewende die Bereitstellung der notwendigen fossilen Kapazitäten von entscheidender Bedeutung. Ein entsprechendes Ziel liegt in der von der Bundesnetzagentur als notwendig erachteten und dem Netzausbauplan zugrunde gelegten konventionellen Kraftwerkskapazität von 98,8 Gigawatt im Jahr 2022. Dieses Ziel kann dem nach heutigen Planungen erwarteten Kapazitäten im selben Jahr gegenübergestellt werden. Wird der Kapazitätsbedarf vollständig erfüllt, wird ein Zielerreichungsgrad von 100 Punkten festgestellt. Jeder Prozentpunkt, den die erwarteten unter den benötigten Kapazitäten liegen, führt zu einer Verminderung des Zielerreichungsgrades um einen Punkt. 

Zielerreichung der Versorgungssicherheit in der Energiewende Zielerreichung der Versorgungssicherheit in der Energiewende

Aufbauend auf dem Referenzjahr 2010 wird durch den Abzug von Kraftwerken, die aufgrund regulatorischer Bestimmungen voraussichtlich außer Betrieb genommen werden, und dem mit weitgehender Sicherheit zu diesem Zeitpunkt einsetzbaren Zubau neuer Kraftwerke eine erwartete Gesamtkapazität für das Jahr 2022 kalkuliert. Der Rückgang der Kapazitäten von fossilen Kraftwerken und den beschleunigten Ausstieg aus der Kernenergie kann nach heutiger Planung voraussichtlich nicht durch den Neubau von Kraftwerken ausgeglichen werden. Damit sinkt die gesamte Kapazität auf 90,5 Gigawatt in 2022 und die für notwendig erachtete Größe wird nicht erreicht. Der Zielerreichungsgrad beläuft sich auf 91,6 Punkte. 

Erfolge und Herausforderungen

Noch gibt es nicht viele Erfahrungen mit der Energiewende. In den kalten Winterwochen konnten bei höchstem Strombedarf in Mitteleuropa und bei nach dem Kernenergieausstieg deutlich gesunkenen Kapazitäten die auftretenden Probleme gerade noch gemeistert werden. Und das auch nur, weil praktisch alles ans Netz gebracht wurde, was irgendwo verfügbar war – inklusive alter Kohle- und Ölkraftwerke. Die Sicherheitsreserve ist auf ein Minimum geschrumpft. Die Eingriffe zur Sicherung der Netzstabilität haben sich in letzter Zeit vervielfacht. So kam es allein im Netz der TenneT im Jahr 2011 an 308 Tagen zu 1024 Eingriffen zur Netzstabilisierung, beispielsweise indem bei einem Überangebot von Strom Windenergieanlagen vom Netz genommen werden – und eine Entschädigung an die Anlagenbetreiber gezahlt wird. 

Kritische Ereignisse im Netz Kritische Ereignisse im Netz - Zahl der Ereignisse und der Tage, an denen in der TenneT-Regelzone zur Stabilisierung eingegriffen werden musste

Die große Herausforderung liegt darin, die Simultanität von Stromerzeugung und Verbrauch weiterhin sicherzustellen. Dazu müssen wirtschaftlich und großflächig betreibbare Speichermöglichkeiten entwickelt werden. Verbesserte Import- und Exportstrukturen verbessern die Ausgleichsmöglichkeiten ebenfalls. Durch eine Flexibilisierung des Verbrauchs soll der Anpassungsbedarf der Erzeugungsseite ebenfalls gesenkt werden.

Besonders wichtig ist aber auch die Sicherung ausreichender fossiler Backup-Kapazitäten. Diese bereitzustellen stößt aus zwei Gründen an Grenzen: Zum einen ist die öffentliche Kritik an fossilen Kraftwerken so groß, dass sich neue Bauprojekte nur schwer realisieren lassen. Die Erfahrungen der Energieversorger beim Kraftwerksbau waren in den letzten Jahren ernüchternd. Zum anderen aber ist die ökonomische Basis neuer und effizienter Kraftwerke zweifelhaft. Je höher der Anteil der vorrangig einzuspeisenden erneuerbaren Energien ist, desto kleiner ist die Stundenzahl, an denen fossile Kraftwerke laufen können. Damit werden aber die Möglichkeiten der Refinanzierung der Investitionen deutlich eingeschränkt. Ob sich neue Kraftwerke in Zukunft lohnen, ist unklar. Werden sie nicht gebaut, müssen alte und ineffiziente Kraftwerke weiterbetrieben werden. Schon heute muss in der Bundesnetzagentur darüber nachgedacht werden, Stromerzeugern die Stilllegung von Kraftwerken zu verbieten, die sich finanziell eigentlich nicht mehr rechnen, zur Sicherung der Stromerzeugung in bestimmten Situationen aber benötigt werden. 

Die wichtigsten politischen Entwicklungen

Ein einfaches Gesetz zur Sicherung der Versorgung kann es kaum geben. An verschiedenen Stellen werden Maßnahmen getroffen, die hierzu einen Beitrag leisten können:

  • Der NEP soll den notwendigen Netzausbau beschreiben und vorbereiten und stellt insofern einen wichtigen Beitrag zur Versorgungssicherheit dar.
  • Die Bundesnetzagentur hat kurzfristig mobilisierbare Kapazitäten im In- und Ausland angekauft, um diese in Notfallsituationen einsetzen zu können, wie dies Anfang 2012 zur Sicherung der Stromversorgung auch geschehen ist.
  • Die Technologien zur Verbesserung der Speichermöglichkeiten von elektrischem Strom sollen durch Forschungsmaßnahmen verbessert werden.

Auf mittlere Sicht ist jedoch auch ein verstärkter Bau von fossilen Kraftwerken notwendig. Neben der notwendigen Akzeptanz und der verbesserten Rechtssicherheit ist auch die Wirtschaftlichkeit dieser Anlagen zu gewährleisten. Eine ausführliche Diskussion widmet sich der Frage, ob sogenannte Kapazitätsmärkte geschaffen werden müssen, die allein für die Bereitstellung von Stromerzeugungskapazitäten Zahlungen an die Investoren ermöglichen. Ob dies wirklich notwendig ist, was der beste Weg ist und wie dieses Verfahren wettbewerblich organisiert werden kann, ist aber auch noch Thema einer wissenschaftlichen Debatte und zählt zu den noch nicht abschließend geklärten Strukturfragen der Energiewende. 

Fazit und weiterer Handlungsbedarf

Bisher war die Versorgungslage mit Strom noch gut, in sonnen- und windschwachen Wintermonaten mit einem sehr hohen Stromverbrauch ist sie aber schon kritisch. Bei einem gleichzeitigen Auftreten mehrerer ungünstiger Faktoren muss mit einem Stromausfall gerechnet werden. Dieses Krisenszenario konnte bisher abgewendet werden, das Risiko ist damit aber keineswegs kleiner geworden.

Auch wenn der Wert von 91,6 Punkten eine hohe Versorgungssicherheit anzeigt, ist der Abstand zum Wert 100, der ausreichende fossile Kapazitäten verdeutlicht, groß. Eine Zielverfehlung bei der Versorgungssicherheit kann erhebliche Auswirkungen haben. Daher ist Nachholbedarf eindeutig gegeben.

Insbesondere muss auf mittlere Sicht der Neubau von effizienten fossilen Anlagen ermöglicht werden, wenn auch in den nächsten Jahrzehnten das hohe Maß an Zuverlässigkeit der Stromversorgung beibehalten werden soll.