Standpunkt

Hartz IV ist hart - aber nicht hartherzig

Niemand ist gerne arbeitslos. Niemand möchte auf Hartz IV angewiesen sein. Niemand will im Alter jeden Euro zweimal umdrehen müssen. Aber wie verhindert man Arbeitslosigkeit, Armutsgefährdung, und wie sichert man den eigenen Lebensabend finanziell ab? Ein Standpunkt von INSM-Geschäftsführer Hubertus Pellengahr.

3. März 2017

INSM-Position Arbeitsmarkt

Hubertus Pellengahr, Geschäftsführer der INSM.

Lange vertraute der deutsche Sozialstaat fast ausschließlich auf die Eigenmotivation der Arbeitslosen. Zusätzliche Anreize fehlten. Man kümmerte sich vordringlich um das Abfedern der Folgen von Arbeitslosigkeit, die Stellenvermittlung fand eher halbherzig statt. Der politische Kampf drehte sich um die Höhe des Arbeitslosengeldes, statt um Vermittlungsgeschwindigkeit und Qualifizierungsmaßnahmen.

Nicht nur aus Sicht eines Liberalen ist Eigenverantwortung eines der höchsten Güter. Zudem lassen wir uns von kurzfristigen Anreizen locken - auch wenn sie in die falsche Richtung führen. Was ist sozialer: die Folgen einer längeren Arbeitslosigkeit finanziell erleichtern, oder die Arbeitslosigkeit schnell beenden? Die Mütter und Väter der Agenda 2010 haben zum Glück erkannt, dass es immer schwerer wird, aus der Arbeitslosigkeit zu entkommen, je länger sie dauert. Sie haben die Jobcenter finanziell und personell verstärkt, um mehr Menschen schneller wieder in Arbeit zu bringen. Gleichzeitig wurde die Bezugszeit von Arbeitslosengeld auf maximal zwölf Monate begrenzt. Wer länger arbeitslos ist, bekommt mit Hartz IV nur noch das soziokulturelle Existenzminimum, später ggf. Grundsicherung im Alter. Das sieht hart aus - und ist es für einige Betroffene auch. Vergleichsstudien zeigen aber, dass ehemalige Sozialhilfeempfänger dank Hartz IV finanziell deutlich besser dastehen. Vor allem Alleinerziehende profitieren von höheren Leistungen und besserer Betreuung. Die Agenda-Reformen sind sozialer, als viele vermuten. Dazu hilft ein nüchterner Blick auf die Ergebnisse. Seit Einführung der Hartz-Reformen hat sich die Zahl der Arbeitslosen von über fünf Millionen auf derzeit 2,5 Millionen mehr als halbiert. Die Zahl der Beschäftigten ist mit aktuell fast 44 Millionen auf einem Allzeithoch. Und entgegen der Behauptung vieler Kritiker wurden vor allem unbefristete, sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze geschaffen. Und es stieg nicht nur die Zahl der Arbeitsplätze, auch die Summe der Arbeitsstunden geht wieder nach oben.

Sicher, die Agenda-Reformen sind nicht der alleinige Grund für Deutschlands wirtschaftliche Stärke und das hohe Beschäftigungsniveau. Aber sie haben die Voraussetzungen dafür geschaffen, indem sie das Prinzip des „Fördern und Fordern“ in die Tat umgesetzt haben. Gut zu sehen an der Zahl der Langzeitarbeitslosen: Es waren 2005 1,8 Millionen, jetzt sind es über 800.000 weniger. Menschen, die vor 15 Jahren mit Frühverrentungsprogrammen vorzeitig zum alten Eisen gelegt wurden, arbeiten jetzt länger. Zwei von drei 55- bis 60-Jährigen haben einen Job. Die allermeisten behalten ihn: Die Zahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigen zwischen 60 und 65 stieg von 730.000 im Jahr 2002 auf rund 1,9 Millionen. Das entlastet nicht nur die Rentenkassen, diese Menschen erhöhen sich durch ihren Einsatz ihre eigenen Rentenansprüche. Und was es kurz- und langfristig bedeutet, dass wir eine Jugendarbeitslosenquote von 5,4 Prozent haben und nicht mehr 12,5 Prozent wie 2005, ist allen offensichtlich.

Ich will nichts beschönigen, aber die hart anmutenden Reformen sind alles andere als hartherzig. Sie wurzeln in einem von Selbstbestimmung, Eigenverantwortung und Teilhabe geprägten Verständnis des Begriffs „sozial“. Es ist viel sozialer, einem Arbeitslosen schnellstmöglich wieder in den Arbeitsmarkt zurück zu helfen, als ihm ein paar Monate länger seine Arbeitslosigkeit zu finanzieren - selbst, wenn man dabei einen für ihn unangenehmen finanziellen Druck ausüben muss. Es ist gerechter, ältere Arbeitnehmer länger im Arbeitsmarkt zu halten, als die Rentenbeiträge der immer weniger werdenden Jungen zusätzlich zu erhöhen. Warum soll ein Beitragszahler 2030 ein Viertel seines Einkommens an Rentner zahlen, die selbst zeit ihres Berufslebens nie mehr als ein Fünftel abgeben mussten? Diese Fragen aufzuwerfen ist gerechter und langfristig versöhnlicher, als weiter so zu tun, als gäbe es den demografischen Wandel nicht, um unerfüllbare Wahlversprechen abzugeben. Wer populär klingende Änderungen an den Agenda-Reformen ankündigt, dabei auch noch leichtfertig mit falschen Zahlen arbeitet und so tut, als hätten wir gar nichts zu verlieren, riskiert mehr soziale Abstiege, als ein paar Prozentpunkte in Wahlumfragen rechtfertigen können.

 

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