Soziale Marktwirtschaft
Wolfgang Clement zur Europawahl 2019

Mehr Gefühl für Europa

Wie hätten Sie es jetzt gern, so kurz vor den Wahlen zum Europäischen Parlament? Einen flammenden Appell für mehr europäische Politik, für das erfolgreichste Friedensprojekt des 20. Jahrhunderts? Oder für den Binnenmarkt und die Reisefreiheit auf diesem Kontinent? Oder doch eher ein paar mahnende Worte, die auf die Gefahren für Europa durch regelwütige Bürokraten oder erstarkende Populisten hinweisen? Beides ist richtig und wichtig – und ist doch zweitrangig. Für die Weiterentwicklung der Europäischen Union gibt es viele gute Gründe, ebenso unbestreitbar ist die Gefahr von Fehlentwicklungen. Aber Europa ist für mich nicht nur die Summe dieser oder jener Argumente. Europa ist für mich Emotion, es ist das Gefühl einer wahrhaftig offenen, auf Frieden und Freiheit und Wohlstand möglichst für alle verpflichteten Welt – bis heute einmalig auf dieser Erde!

6. Mai 2019

Was Europa stark macht9 Fakten zur Europäischen Union

Es fühlte sich eben gut an, als ich zum ersten Mal über die Grenze in die Niederlande fuhr und diese Grenze nur aus ein paar Schildern und einer gedachten Linie bestand. Natürlich war es auch wahnsinnig praktisch, nicht erst vor einer Schranke und ein paar überschaubar freundlichen Grenzbeamten anzuhalten. Aber es war vor allem ein Gefühl von Freiheit. Ganz anders, aber erfreulich war es auch, für eine Fernreise nicht die Preise einer einzigen Fluggesellschaft akzeptieren zu müssen, sondern aus einer Vielzahl von Angeboten das beste und günstigste auswählen zu können. Erinnern Sie sich noch, wie es war, wenn man in Spanien oder Italien auf dem Mobiltelefon angerufen wurde oder man – nur ganz kurz – mit ein paar Kartendaten die Navi-App des Telefons nutzen wollte? Es schwang immer ein bisschen Angst vor der nächsten Telefonrechnung mit. Das ist erst seit Kurzem wirklich vorbei, aber wir nutzen unsere Handys in Europa schon genauso selbstverständlich, wie wir mit Euros bezahlen. Für meine Enkel werden ein paar Auslandssemester in Bologna, Madrid oder Kopenhagen einfacher und selbstverständlicher sein als für mich der Universitätswechsel von Münster nach Marburg. All diese Fortschritte sind nicht zuletzt deshalb so großartig, weil sie uns so selbstverständlich, so natürlich und richtig vorkommen. Doch darin liegt auch eine Gefahr. Für etwas Selbstverständliches ist man nicht ständig dankbar, man pflegt es nicht mehr mit Hingabe. Hat man sich erst einmal daran gewöhnt, mit dem Flugzeug schnell und günstig nach Warschau reisen zu können, redet man eher über die zu engen Sitzreihen und das fade Essen an Bord, als sich über die ersparte Zeit im Stau und die gesparten Autobahngebühren zu freuen. Wer sein Handy in Amsterdam genauso selbstverständlich nutzt wie in München, Wien oder Bratislava, freut sich nicht mehr über die unkomplizierte Erreichbarkeit, sondern ärgert sich über das ständige Gebimmel.

Und nun? Ist Europa fertig? Wir könnten uns doch mit schrankenlosem Reisen, Kommunikation ohne extra Roaminggebühr und einer gemeinsamen Währung zufrieden geben und das Projekt Europa für vollendet erklären. Angesichts der Herausforderungen, die auf Deutschland und Europa zukommen, wäre das fatal. Europa darf nicht den Fehler wiederholen, den Großbritannien dabei ist zu begehen. Damit meine ich nicht in erster Linie die von Populisten in die Welt gesetzten Unwahrheiten, sondern vor allem den Irrglauben, im 21. Jahrhundert als mittelgroßer Nationalstaat eine dauerhaft relevante Rolle in der Welt spielen zu können. Amerikanische Internetkonzerne mit Milliarden Nutzern ändern ihren Umgang mit persönlichen Daten nicht, nur weil eine Nation wie die unsere mit gut 80 Millionen Einwohnern es gern so hätte. Die chinesische Industrie reduziert nicht ihren CO2-Ausstoß, nur weil sich ein Land auf der anderen Seite der Erdkugel Sorgen um das Klima macht. Und wer die Arbeits- und Lebensbedingungen in Entwicklungs- und Schwellenländern verbessern will, darf nicht einen Flickenteppich an Regelungen produzieren, sondern muss ihnen mit transparenten gemeinsamen Zugangsregeln den Weg in unsere europäischen Märkte öffnen.

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Politik wirkt nicht immer gut und schön, macht aber trotzdem viel Arbeit. Die Bürgerinnen und Bürger haben das selbstverständliche Recht, vom politischen Klein-Klein der Kompromisssuche verschont zu werden. Sie wollen Lösungen für ihre Probleme und Sicherheit für sich und ihre Angehörigen. Niemand interessiert sich dafür, wie schwer es war, die Roaminggebühren in der EU abzuschaffen. Keiner will mit einzelnen Paragrafen der Zollabkommen belästigt werden. Aber alle erwarten, dass es funktioniert. Ja, das mag aus Sicht der betroffenen Politiker undankbar erscheinen. Aber es gehört zur Berufserfahrung des Politikers, dass Wähler ziemlich viel zu kritisieren wissen, aber nur dann und wann ein wenig Schulterklopfen und (hoffentlich) ihr Kreuzchen auf Stimmzetteln verteilen.

Unsere modernen Kommunikationsmittel machen es sehr leicht, etwas ohne seinen Kontext wahrzunehmen. Es ist verführerisch, einen Schwachpunkt in der Argumentation des jeweils anderen herauszupicken und anzugreifen. Damit lassen sich Likes und Herzchen in den sozialen Medien gewinnen, aber keine vernünftigen Debatten führen. Wir müssen uns wieder mehr zuhören, statt uns immer nur widersprechen zu wollen. Das geht umso einfacher, je näher die zu lösenden Probleme bei denen sind, die sie lösen sollen. Das Subsidiaritätsprinzip, das die Verantwortlichkeiten auf die zur Problemlösung am besten geeigneten Ebenen verteilt, muss daher wieder zum zentralen Konzept für Europa werden. Das Zollabkommen wird in Brüssel verhandelt, der Einkommensteuersatz in Berlin, Bildungspolitik meist im Landtag und der neue Fahrradweg im Rathaus. Die Strompolitik muss europäischer werden, die Arbeitslosenversicherung nicht. Jedenfalls so lange nicht, wie die nationalen wirtschaftlichen Kräfte auf dem Kontinent so unterschiedlich stark und leistungsfähig sind, wie sie es heute noch immer sind.

Die europäische Politik muss sich auf das für alle Staaten gemeinsam wirklich Notwendige und Wichtige beschränken, aber auch konzentrieren. Auf die Realisierung von Binnenmarkt und Währungsunion, auf eine gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik, auf ein gemeinsames Asylrecht und das Migrationsthema, auf eine gemeinsame, wahrhaft grenzüberschreitende Digital- und Energiepolitik. So geht europäische Subsidiaritätspolitik. Die wissenschaftlichen und technologischen Erfahrungen, Stärken und Kompetenzen, die auf diesem Kontinent mehr als sonstwo versammelt sind, endlich zusammen und auf der Welt zur Geltung zu bringen. Das ist die Aufgabe. Wenn wir uns daran halten, hilft das auch dem Gefühl für Europa, weil dann klarer ist, wofür Europa steht. Wofür die EU zuständig und verantwortlich ist und wofür eben nicht. Nationales oder regionales Politikversagen kann dann nicht mehr mit diffusen Verweisen auf Brüssel kaschiert werden. Statt uns über Klein-Klein zu streiten, können wir Europäer uns dann wieder mehr über die großen Erfolge freuen. Die Weltgeschichte hat uns Deutschen und allen Europäern auf brutalstmögliche Weise beigebracht, dass es zu Frieden und Eintracht, Freiheit, Demokratie und einem Wohlstand möglichst für alle keine brauchbare Alternative gibt.

Deshalb fühlt es sich heute einfach gut an, Europäer zu sein.

Dieser Text erschien ursprünglich am 5. Mai 2019 in der Welt am Sonntag als Gastbeitrag.   

Wolfgang Clement
Kuratoriumsvorsitzender der INSM