Die Anfangszeiten der Sozialen Marktwirtschaft waren nicht rosig: 10 Prozent Arbeitslosigkeit, Nahrungsmittel auf Bezugsschein, wuchernder Schwarzmarkt, hohe Steuern für Unternehmen und Alliierte, die in alles hineinregierten. Lesen Sie mehr über den Weg ins Wirtschaftswunder.
5. Februar 2007
Hätte jemand den Westdeutschen 1948 erzählt, dass in der Bundesrepublik bereits 1961 Vollbeschäftigung herrschen und dass Bundesbürger zu Tausenden im eigenen Käfer in den Italien-Urlaub fahren würden, er wäre damals nicht nur bei den anderthalb Millionen Arbeitslosen in der Bundesrepublik auf Hohn und Spott gestoßen.
Und das wäre vielleicht zunächst auch so geblieben, wenn es da nicht eine wuchtige Persönlichkeit gegeben hätte, die dickköpfig, Zigarre rauchend, ein anderes System erdachte und sich damit auch über strikte Weisungen der Siegermächte hinwegsetzte: Ludwig Erhard, geboren 1897 in Fürth, Sohn eines Textilwarenhändlers, Wirtschaftsfachmann mit großen Visionen. Er hatte schon 1944 das Konzept einer wirtschaftlichen Ordnung nach dem Krieg - die Niederlage sah er voraus - entwickelt.
Die Briten und Amerikaner machten Erhard 1948 zum Direktor der Verwaltung für Wirtschaft. Berühmt wurde er durch die Währungsreform 1948. Schon in der ersten Woche danach waren die Schaufenster plötzlich voll mit Kaffee und Kochtöpfen, Zigaretten und Zahnbürsten. Es muss den Westdeutschen damals so vorgekommen sein, wie 1989 den DDR-Bürgern nach dem Mauerfall. Sogar die Kühe schienen auf die West-Mark mit höherer Milch-Leistung zu reagieren: In der ersten Woche mit der neuen Währung wurde wesentlich mehr Butter ausgeliefert als vorher. Zuvor war die Ware in dunklen Kanälen versickert.
Doch die marktwirtschaftliche Radikalkur, die Erhard den Westdeutschen verordnete, hatte auch Ihre Schattenseiten und war politisch stark umstritten. Denn mit der neuen D-Mark, die die marode Reichsmark ablöste, hob Erhard schrittweise und teilweise gegen den Willen der Alliierten auch die gesetzliche Preisbindung sowie die Planbewirtschaftung der meisten Güter auf. Ein VW-Käfer war dann zwar lieferbar, kostete aber 5300 Mark. Ein durchschnittliches Arbeitnehmer-Monatseinkommen betrug seinerzeit rund 540 DM - brutto.
Für Erhard, seit 1949 Wirtschaftsminister im Kabinett der Regierung von Kanzler Konrad Adenauer, war aber eben diese Freiheit von Preisen und Produktion entscheidend. Die von ihm durchgesetzte Vorstellung einer sozialen Marktwirtschaft lebte von der Idee, dass der Staat nicht direkt in Preis- und Lohnbildung sowie Produktion eingreift. Das Konzept, erstmals 1947 vom Kölner Wirtschaftsprofessor Alfred Müller Armack beim Namen genannt, geht vielmehr davon aus, dass der Staat lediglich günstige Rahmenbedingungen setzt, damit die Wirtschaft möglichst störungsfrei arbeiten kann. Wettbewerb sollte für optimale Qualität der Waren zu günstigen Preisen sorgen.
Doch zunächst lief das stockend an. Viele in Westdeutschland fürchteten nach dem Krieg eine Krise und sogar eine galoppierende Inflation wie in den 20er-Jahren. Erhard wies die Forderungen der Opposition nach Planwirtschaft aber brüsk zurück: "Das ist ja grade das Geheimnis der Marktwirtschaft, und das macht ihre Überlegenheit gegenüber jeder Art von Planwirtschaft aus, dass sich in ihr täglich die Anpassungsprozesse vollziehen, die Angebot und Nachfrage zum Ausgleich bringen." schrieb er in seinem Buch "Wohlstand für alle".
Auf die wirtschaftlichen Anlaufprobleme nach der Währungsreform reagierte Erhard 1950, indem er Investitionen für die Industrie wieder attraktiv machte: Er ging gegen die von den Alliierten festgesetzten sehr hohen Einkommens- und Körperschaftssteuersätze an, erlaubte zunächst sehr großzügige Abschreibungsraten auf Investitionen und senkte dann auch die Steuern.
Dieses Rezept funktionierte. Die Wirtschaft wuchs in den 50er Jahren mit durchschnittlich über 7 Prozent pro Jahr. Zum Vergleich: In diesem Jahr (2007) rechnet die Bundesregierung mit einem Wachstum von 1,7 Prozent. Westdeutschlands Wirtschaft wurde zum Exportmeister. 1962 exportierte sie Güter im Wert von über zehn Milliarden Dollar. Nicht nur der Käfer lief und lief und lief rund um den Globus. Und die D-Mark avancierte zur härtesten Währung weltweit. Anfang der 60er-Jahre herrschte in Westdeutschland Vollbeschäftigung. Das Durchschnittseinkommen hatte sich im Vergleich zu den Anfangsjahren verdreifacht. Auch Millionen Flüchtlinge aus dem Osten wurden problemlos in den Arbeitsmarkt West aufgenommen. Ihr Know-how trug ganz sicher dazu bei, dass der Wirtschaftsmotor West noch schneller tourte.
Zunächst einmal war es - darauf bestand auch Erhard- kein "Wunder", sondern schlicht das Ergebnis einer Wirtschaftspolitik, die günstige Rahmenbedingungen für wirtschaftliches Handeln und freien Wettbewerb schuf. Das hat die Wirtschaft zu einem Investitionsschub motiviert. Mit der neuen Technik ließ sich viel schneller und billiger produzieren. Waren Made in West-Germany hatten nicht nur eine gute Qualität, sie schnitten im internationalen Wettbewerb auch beim Preis hervorragend ab - nicht zuletzt auch, weil die Löhne in Westdeutschland im Vergleich zum Ausland zunächst niedrig blieben. Die zweifellos großen Gewinne vieler Unternehmen in den frühen Jahren der Marktwirtschaft wurden nicht gleich in den Konsum gesteckt. Vielmehr flossen große Summen gleich wieder in die Betriebe - für neue, noch modernere und effektivere Anlagen.
Erst ab 1952 zogen auch die Arbeitnehmereinkommen an - dann aber gleich so sehr, dass Erhard um die Stabilität seiner D-Mark fürchtete und 1956 Maßnahmen gegen Preistreiberei auf den Weg brachte. 1958 erzielten die Gewerkschaften immerhin Lohnsteigerungen von über 8 Prozent!
Mit dem neuen Wohlstand bekam auch der Konsum - von Erhard als Grundrecht verkündet - einen neuen Stellenwert. Als erstes kam die Fresswelle. Für viele Haushalte war ein Kühlschrank Ziel aller Begierden, konnte doch mit ihm die neuen maschinell hergestellten Lebensmittel frischgehalten werden. Mit frischer Ananas im Kühlschrank rückten die Träume vom Urlaub im Süden zumindest geschmacklich näher. Realisiert werden konnten sie erst mit der folgenden Motorisierungs- und Reisewelle. Gab es 1950 grade mal 500.000 Autos in Westdeutschland, so waren es 1960 über vier Millionen. Der Käfer brachte die Deutschen nach Italien - für die meisten war es der erste Auslandsurlaub überhaupt.
Der wirtschaftlicher Erfolg ermöglichte auch den Ausbau des Sozialen in der Marktwirtschaft: Die Rentenreform brachte eine Anhebung der Renten um 60 Prozent! Die Sozialversicherung garantierte erstmals ein Leben oberhalb des Existenzminimums, und die Gewerkschaften konnten auch ihre Forderungen nach Mitbestimmung in den Unternehmen durchsetzen.
Für viele Deutsche in der Nachkriegszeit kam der Erhardsche "Wohlstand für alle" spät und blieb bescheiden. Doch trotz dieser Verteilungsungerechtigkeit blieben die Wirtschaftswunderjahre bis zur ersten Wachstumskrise 1966/67 als Legende im Bewusstsein: Einen solchen Entwicklungsschub gab es in Deutschland bis heute nie wieder.