Soziale Marktwirtschaft
Standpunkt

Hans Tietmeyer über die neue soziale Marktwirtschaft

Professor Dr. Hans Tietmeyer ist seit dem Jahr 2000 Kuratoriumsvorsitzender der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft. Um das Erhardsche Erfolgsmodell wieder flott zu machen, sind umfassende Reformen Arbeitsmarkt, im Sozialstaat, im Steuer- und Bildungssystem notwendig.

18. März 2009

Hans Tietmeyer über die neue soziale Marktwirtschaft Professor Dr. Hans Tietmeyer

„Mehr Wettbewerb, weniger staatliche Bevormundung, mehr Verantwortung des Einzelnen für sein Schicksal und mehr Freiraum für Eigeninitiative." Wie kaum ein Zweiter ist Tietmeyer als Zeitzeuge und Mitgestalter aufs Engste mit der Sozialen Marktwirtschaft verbunden. Er war Student bei Alfred Müller-Armack und begann seinen beruflichen Werdegang 1962 im Bundeswirtschaftsministerium unter der Führung von Ludwig Erhard. Heute fordert der frühere Bundesbankpräsident eine Rückbesinnung auf die Grundprinzipien der Sozialen Marktwirtschaft, wie sie vor rund 60 Jahren Ludwig Erhard in der Bundesrepublik etablierte. 

Um das Erhardsche Erfolgsmodell wieder flott zu machen, sind umfassende Reformen Arbeitsmarkt, im Sozialstaat, im Steuer- und Bildungssystem notwendig. Dabei, so Tietmeyer, "heißen die Leitlinien der notwendigen Veränderungen: Mehr Wettbewerb, weniger staatliche Bevormundung, mehr Verantwortung des Einzelnen für sein Schicksal und mehr Freiraum für Eigeninitiative."

Besinnung auf die Soziale Marktwirtschaft

Die Soziale Marktwirtschaft hat in unserem Land breiten Bevölkerungsschichten Wohlstand und ein hohes Maß an sozialer Sicherheit gebracht. Freiheit, Selbstverantwortung, Eigeninitiative, Wettbewerb und ein durchsetzungsfähiger Staat, der für einen stabilen Rechtsrahmen sorgt und sich auf die Solidarität mit den Schwachen konzentriert: Das sind die Erfolgsfaktoren des erfolgreichen Wirtschafts- und Sozialsystems. Doch mit zunehmendem Wohlstand wurden diese Prinzipien Stück für Stück ausgehöhlt. Der Einfluss des Staates und die Ansprüche an den Staat sind immer weiter gewachsen. Eigenverantwortung, Leistungsbereitschaft und Wettbewerb haben zunehmend an Bedeutung verloren.

Eine Rückbesinnung auf die fundamentalen Prinzipien der Sozialen Marktwirtschaft ist heute mehr denn je geboten. Denn zu Beginn des 21. Jahrhunderts stehen wir vor großen Herausforderungen: Die bedrückend hohe Arbeitslosigkeit muss entschieden bekämpft werden, vor allem wenn wir den Anspruch stellen, niemanden aus unserer Gesellschaft auszugrenzen. Der demografische Wandel zwingt uns zu mehr Eigenverantwortung in der Sozialen Sicherung. Der Wettbewerb auf den globalisierten Märkten verschärft sich und zeigt seine Auswirkungen bis hinein in die Arbeitswelt der Menschen. Nur wenn es gelingt, die Grundprinzipien der Sozialen Marktwirtschaft wieder frei zu legen unter dem Ballast, der sich in den vergangenen Jahrzehnten angesammelt hat, werden wir die Herausforderungen meistern. 

I. Die Erfolgsgeschichte der Sozialen Marktwirtschaft

 1. Von der Mangelwirtschaft zum "Wohlstand für alle"
Der Wohlstand, den Deutschland heute erreicht hat, war für die Bürger im Nachkriegsdeutschland kaum vorstellbar. Nach dem Zweiten Weltkrieg lagen unsere Städte in Trümmern, Hunger und Elend waren allgegenwärtig. Lebensmittel und Konsumgüter wurden in der zentral verwalteten "Mangel-Wirtschaft" rationiert und konnten - wenn überhaupt - nur gegen Bezugsscheine und unter großen Anstrengungen erhalten werden.

Entscheidend für den gelungenen Wiederaufbau und die erfolgreiche wirtschaftliche und politische Entwicklung Deutschlands in den vergangenen fünfzig Jahren war der Übergang zu einem freiheitlichen Wirtschaftssystem. Dass dieser gelang, konnte nach dem Zweiten Weltkrieg keineswegs als selbstverständlich angesehen werden. Weite Teile der Gesellschaft waren der Ansicht, die Bewirtschaftung müsse aufrecht erhalten werden und der Übergang zu einem marktwirtschaftlichen System führe ins Chaos und sei der grundsätzlich falsche Weg.

Eine andere Auffassung vertrat eine Gruppe freiheitlich gesinnter Politiker und Ökonomen, zu denen Ludwig Erhard, Alfred Müller Armack, Walter Eucken, Franz Böhm und Wilhelm Röpke gehörten. Diese "Väter der Sozialen Marktwirtschaft" waren überzeugt, dass die Ursache der wirtschaftlichen Probleme nicht in erster Linie in den Kriegsfolgen, sondern in der "fehlerhaften Organisation des volkswirtschaftlichen Produktionsapparates" (Müller-Armack) zu sehen sei. Unter der Führung Ludwig Erhards gewann diese Auffassung zunehmend an Einfluss und es gelang, die bereits während des Krieges entstandenen Ideen eines freiheitlichen Wirtschaftssystems, der "Sozialen Marktwirtschaft", in die Praxis umzusetzen.

Die Währungsreform am 20. Juni 1948 brachte mit der D-Mark wieder eine stabile Währung und schuf damit eine notwendige Voraussetzung für eine funktionierende Wirtschaftsordnung. Den entscheidenden Schritt in Richtung Marktwirtschaft vollzog aber Ludwig Erhard mit seiner Wirtschaftsreform. Bis auf wenige Ausnahmen wurden die Mengenregulierungen aufgehoben und die Preise freigegeben.

Wirtschafts- und Währungsreform führten sozusagen über Nacht zum Erfolg. Die Menschen gewannen Vertrauen in die D-Mark und innerhalb kürzester Zeit war eine Vielzahl von Gütern erhältlich. Eine umfangreiche Investitionstätigkeit setzte ein und die Industrieproduktion stieg im ersten Jahr nach den Reformen um mehr als die Hälfte. Der Grundstein für das "deutsche Wirtschaftswunder" war gelegt.

In den Folgejahren kam es im Zeichen der Erhardschen Politik zu einem kontinuierlichen Wachstumsprozess. Die Einkommen hielten mit dem Wirtschaftswachstum Schritt, die Preise blieben stabil, die Kaufkraft der breiten Bevölkerung wuchs, und in den fünfziger und sechziger Jahren wurde die Vollbeschäftigung erreicht. Die Vision Ludwig Erhards, durch ein freiheitliches Wirtschaftssystem "Wohlstand für alle" zu schaffen, wurde Realität.

2. Eigeninitiative und Wettbewerb als Erfolgsfaktoren
Der große Erfolg, den die Soziale Marktwirtschaft zu Zeiten Ludwig Erhards hatte, beruhte auf der Initiative, der Kreativität und der Leistungsbereitschaft der Menschen. Die zentrale Bedeutung der Eigeninitiative für den individuellen und den gesellschaftlichen Wohlstand brachte Ludwig Erhard 1958 auf den Punkt: "Das mir vorschwebende Ideal beruht auf der Stärke, dass der Einzelne sagen kann: Ich will mich aus eigener Kraft bewähren, ich will das Risiko meines Lebens selbst tragen, will für mein Schicksal verantwortlich sein."

Die staatliche Aufgabe besteht im Erhardschen Konzept der Sozialen Marktwirtschaft vor allem darin, einen Ordnungsrahmen zu setzen, der die Kreativität und Leistungsbereitschaft der Menschen bestmöglich zur Geltung kommen lässt. Der tragende Pfeiler dieses Ordnungsrahmens ist der Wettbewerb. Der Wettbewerb ist ein "Entdeckungsverfahren" (Friedrich August von Hayek), das eine Vielzahl neuer Produkte, Dienstleistungen und Herstellungsverfahren hervorbringt, die in einer zentral gelenkten Wirtschaft "entweder unbekannt bleiben oder doch zumindest nicht genutzt würden". Der Wettbewerb führt zu Dynamik und Innovation, er treibt die wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklung voran. Zudem verhindert er die Anballung wirtschaftlicher Macht in Form von Monopolen und Kartellen. Er ist somit auch ein wichtiges Instrument zur Freiheitssicherung.

Die Soziale Marktwirtschaft ist aber keine freie Marktwirtschaft, die ausschließlich durch Wettbewerb und Individualismus bestimmt wird. Alfred Müller-Armack hat es als Sinn der Sozialen Marktwirtschaft bezeichnet, "das Prinzip der Freiheit auf dem Markte mit dem des Sozialen Ausgleichs zu verbinden". Für die Begründer der Sozialen Marktwirtschaft war es jedoch falsch, die Marktwirtschaft und das Soziale als etwas Getrenntes oder Gegensätzliches bzw. den sozialen Ausgleich ausschließlich als das Ergebnis staatlicher Umverteilung zu sehen. Vielmehr stehen Eigenverantwortung und private Absicherung eindeutig an erster Stelle. Die Gemeinschaft soll aber auch denjenigen ein menschenwürdiges Leben garantieren, die Hilfe brauchen: den weniger Leistungsfähigen, Alten, Kranken, Behinderten. Und sie soll bei der Eigenvorsorge für die großen Lebensrisiken helfen. Erhard war aber überzeugt, dass die Notwendigkeit staatlicher Hilfen mit wachsendem Wohlstand immer weiter abnehmen werde.

II. Jahrzehntelange Fehlentwicklungen

1. Mehr Staat, höhere Steuern, wachsende Staatsverschuldung
Die Soziale Marktwirtschaft hat sich in Deutschland als einigartiges Erfolgsrezept erwiesen und den Menschen Freiheit und Wohlstand gebracht. Doch mit steigendem Wohlstand ging das Klima des Aufbruchs verloren. An die Stelle von Wettbewerb, Eigeninitiative und Selbstverantwortung rückte zunehmend der Ruf nach dem Staat. Und dieser folgte dem Ruf nur allzu bereitwillig und griff in nahezu alle gesellschaftlichen Bereiche ein.

An der Staatsquote, also dem Verhältnis der Staatsausgaben zur gesamtwirtschaftlichen Leistung, wird die Ausdehnung des staatlichen Einflusses sichtbar. Zu Beginn der sechziger Jahre lag die Quote bei rund 32 Prozent. Seitdem stiegen die Staatsausgaben kontinuierlich und in den neunziger Jahren wuchs die Staatsquote bis auf über 50 Prozent. Sie ist inzwischen wieder gesunken, liegt aber immer noch knapp unter dieser Höchstmarke. Fast jede zweite erwirtschaftete Mark wird bei uns durch den Staat umverteilt.

Mit den steigenden Ausgaben wuchs der Finanzbedarf und damit die Belastung der Bürger durch Steuern und Abgaben. Vernachlässigt wurde dabei die Erkenntnis, dass die steuerlichen Rahmenbedingungen einen hohen Stellenwert für die Qualität eines Wirtschaftsstandortes haben. Vernachlässigt wurde auch, dass es gegen die Prinzipien einer auf Privateigentum und Eigeninitiative beruhenden Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung verstößt, wenn die Belastung der Bürger bis auf ein Niveau wächst, das ihnen kaum mehr als die Hälfte ihrer Verdienste belässt.

Trotz der über die Jahre gestiegenen Steuerbelastung reichten die Steuereinnahmen zur Finanzierung der staatlichen Tätigkeit aber nicht aus. Jahr für Jahr haben die öffentlichen Hände Kredite in Milliardenhöhe aufgenommen. Nur in den achtziger Jahren gelang es zwischenzeitlich, den Kurs ständiger Neuverschuldung zurückzuführen. Nach der Wiedervereinigung stieg die staatliche Kreditaufnahme dann in besonders hohem Maße. Im Jahr 2001 wird sich der Gesamtschuldenstand des Staates auf knapp 2,4 Billionen DM belaufen.

2. Eingriffe in das Marktgeschehen
Ludwig Erhard sah in der Ausdehnung der Staatstätigkeit eine große Gefahr für die auf privater Initiative basierende Soziale Marktwirtschaft und mahnte, der Staat müsse sich auf seine Kernaufgaben beschränken: "Es ist nicht Aufgabe des Staates, unmittelbar in die Wirtschaft einzugreifen. Auch passt es nicht in das Bild einer auf unternehmerischer Freizügigkeit beruhenden Wirtschaft, wenn sich der Staat selbst als Unternehmer betätigt." Diese Mahnung wurde zu wenig beachtet. Zu der Vielzahl von Aktivitäten, die der Staat im Laufe der Jahre an sich gezogen hat, gehört nicht zuletzt die unternehmerische Tätigkeit. Dass der Staat Unternehmen wie Reisebüros oder Gartenbaubetriebe unterhält, zeigt, wie weit wir uns von den Erhardschen Prinzipien entfernt haben.

Wettbewerb und unternehmerische Initiative wurden zunehmend auch durch immer neue Gesetze und Regulierungen beeinträchtigt. Der von der damaligen Bundesregierung eingesetzte "Sachverständigenrat Schlanker Staat" hat 1997 eine Bestandsaufnahme vorgelegt. So war das geltende Bundesrecht bis dahin auf mehr als 1.900 Gesetze sowie fast 3.000 Rechtsverordnungen und rund 85.000 Einzelvorschriften gewachsen. Inzwischen dürften diese noch weiter gestiegen sein. Doch nicht nur die Zahl der Gesetze und Vorschriften wuchs. Gleichzeitig wurden sie immer länger und komplizierter.

Die Regelungswut des Staates ist schon lange nicht mehr nachvollziehbar. Sie schränkt die Selbstbestimmung und die freie Entfaltung der Bürger ein. Für die Unternehmen stellt sie ein erhebliches Investitionshindernis dar. Und sie behindert die Funktionsfähigkeit der Märkte: Der freie Marktzugang, die Preisbildung, die Investitionsentscheidungen - all das ist auf vielen Märkten durch Regulierungen, Subventionen und sonstige staatliche Eingriffe immer mehr beschränkt und verzerrt worden. Auf dem Arbeitsmarkt, im Bildungsbereich, in der Landwirtschaft, in der Wohnungswirtschaft, im Handwerk und in vielen anderen Bereichen ist das Ausmaß der Regulierung weit über das hinaus gewachsen, was sich ökonomisch oder sozialpolitisch begründen ließe.

3. Vom Sozialstaat zum Wohlfahrtsstaat
Die Gewährleistung der sozialen Absicherung im Alter, bei Krankheit und in der Not ist als zentraler Bestandteil der Sozialen Marktwirtschaft unumstritten. Doch der Sozialstaat ist im Laufe der Jahre zum Wohlfahrtsstaat geworden, der die Menschen bevormundet, ihnen immer mehr Lasten aufbürdet und immer weniger an Gestaltungsmöglichkeiten lässt. Es gibt unzählige Beispiele dafür, wie Selbsthilfe und Eigenvorsorge durch staatliche Versorgung ersetzt wurden. Fast jeder Bürger erhält mittlerweile in der einen oder anderen Form staatliche Unterstützungszahlungen - unabhängig von seiner Bedürftigkeit. Längst ist nicht mehr feststellbar, wer von der staatlichen Umverteilung wirklich profitiert und wer sie bezahlt.

Die Anreize wurden dadurch in die falsche Richtung gelenkt. Angesichts der hohen Abgabenlast und der vielfältigen staatlichen Transfers haben Leistungsbereitschaft und Selbstverantwortung immer mehr abgenommen. Es wuchs die Versuchung, möglichst viel aus dem Umverteilungssystem "herauszuholen". Gleichzeitig griff eine "Vollkaskomentalität" um sich. Viele Bürger schreiben dem Staat und nicht mehr sich selbst die Verantwortung für ihre Absicherung zu. 

III. Negative Folgewirkungen

1. Nachlassende Dynamik, weniger Innovationen, steigende Arbeitslosigkeit

Je mehr Wettbewerb und private Initiative erlahmten und je stärker der Staat ins wirtschaftliche Geschehen eingriff, desto mehr ließen auch wirtschaftliche Dynamik und Innovation nach. Von einem kraftvollen und anhaltenden wirtschaftlichen Wachstum wie zu Zeiten des "Wirtschaftswunders" sind wir seit langem weit entfernt.

Die Konsequenzen werden besonders an der Entwicklung der Arbeitslosigkeit deutlich. In den sechziger Jahren diskutierte man die Frage, ob man bei einem Prozent Arbeitslosigkeit noch von Vollbeschäftigung sprechen könne. Seit Beginn der siebziger Jahre hat die Arbeitslosigkeit mit jedem Konjunkturzyklus zugenommen. Die Sockelarbeitslosigkeit stieg kontinuierlich an, d.h. auch in Phasen der Hochkonjunktur fiel die Arbeitslosenquote nicht mehr auf den Wert des vorherigen Wirtschaftsaufschwungs. Nach der Wiedervereinigung stieg die Arbeitslosigkeit auf Rekordhöhen, was - neben den gravierenden Strukturbrüchen in den neuen Ländern - vor allem auch damit zusammenhing, dass die Löhne dort schnell angehoben, die Sozialleistungen großzügig bemessen und die Marktmechanismen zu sehr außer Kraft gesetzt wurden.

Inzwischen sind annähernd vier Millionen Menschen arbeitslos - und in dieser Größenordnung bewegen wir uns bereits seit einigen Jahren. Was es für unser Land bedeutet, derart viele Menschen dauerhaft vom Arbeitsleben auszuschließen, haben die katholische und die evangelische Kirche in ihrer gemeinsamen Erklärung "Zur wirtschaftlichen und sozialen Lage in Deutschland" (1994) deutlich gemacht: "Die hohe Arbeitslosigkeit markiert einen tiefen Riss in unserer Gesellschaft. Hunderttausende fühlen sich nicht mehr gefragt, vereinsamen, bekommen Selbstwertprobleme, erfahren gesellschaftliche Diskriminierungen, ziehen sich aus Scham zurück, empfinden Zorn und Wut, fragen nach den Schuldigen."

Auch im Bildungs- und Ausbildungssektor mangelt es seit vielen Jahren an Dynamik und Innovation. Die Konsequenzen dieser Entwicklung werden zunehmend deutlich: Die Kenntnisse unserer Schüler sind im internationalen Vergleich allenfalls Mittelmaß. Unsere Schulen hängen am Gängelband der Bürokratie und mit unseren Universitäten erreichen wir in der Breite gute Ergebnisse, aber in der Spitze bleiben wir stumpf. Mit Ausnahme der dualen Berufsausbildung setzen wir im Bildungsbereich international keine Maßstäbe mehr.

2. Finanzierungsprobleme der öffentlichen Haushalte und der Sozialsysteme
Obwohl die Belastung der Bürger mit Steuern und Abgaben immer weiter gestiegen ist, hat der Staat mittlerweile seinen finanziellen Handlungsspielraum fast verloren. Etwa jede fünfte Steuermark, die der Bundesfinanzminister einnimmt, muss er allein für die staatlichen Zinsleistungen ausgeben. Welche gefährliche Lähmung der finanzpolitischen Handlungsfähigkeit sich durch die wachsenden Staatsschulden abzeichnet, wird auch daran deutlich, dass die Zinsausgaben des Staates schon seit vielen Jahren seine Sachinvestitionen übertreffen.

Ein weiterer Bereich, in dem der Staat vor massiven Finanzierungsproblemen steht, sind die gesetzlichen Sozialversicherungssysteme. Die demografische Entwicklung verursacht im bestehenden Umlageverfahren eine steigende Zahl von Leistungsempfängern bei einer abnehmenden Zahl von Beitragszahlern, die immer höher belastet werden. Obwohl diese Entwicklung seit vielen Jahren erkennbar ist, sind die Leistungen lange Zeit immer weiter ausgedehnt worden. Die Sozialversicherungsbeiträge der Arbeitgeber und Arbeitnehmer sind von rund 24 Prozent der beitragspflichtigen Einkommen im Jahr 1960 auf über 40 Prozent gestiegen. Wenn es nicht zu durchgreifenden Reformen kommt, haben die jungen Menschen die unzumutbare Perspektive weiter steigender Beitragssätze bei gleichzeitiger Ungewissheit, ob sie selbst ausreichende Leistungen aus der Sozialversicherung erhalten werden.

Eine Gesellschaft darf und kann nicht über Jahrzehnte hinweg zulasten der kommenden Generationen über ihre Verhältnisse leben. Die Bürger brauchen die Gewissheit, dass der Staat seine finanzielle Handlungsfähigkeit auch in Zukunft bewahrt und dass die Sozialsysteme Verlässlichkeit und Stabilität über Generationen hinweg gewährleisten. Der Einstieg in die private Altersvorsorge und der jetzt eingeschlagene Konsolidierungskurs sind erste Schritte, die hoffen lassen, dass diese Einsicht endlich auch in der Politik mehr Beachtung findet. 

IV. Wesentliche Ursachen der Fehlentwicklungen

1. Fehlinterpretation des Sozialen
Eine wesentliche Ursache für die schrittweise Aushöhlung der Grundprinzipien der Sozialen Marktwirtschaft ist darin zu sehen, dass die Verbindung von marktwirtschaftlicher Freiheit und sozialem Ausgleich zu oft missverstanden wurde. Die "Marktwirtschaft" und das "Soziale" werden fälschlicherweise von vielen als etwas Getrenntes, ja Gegensätzliches gesehen. Soziale Gerechtigkeit kann nach dieser Auffassung nur außerhalb des Marktes, also durch staatliche Umverteilung oder durch Einschränkung des Wettbewerbs erreicht werden. Ein solches Verständnis von Sozialer Marktwirtschaft verkennt zweierlei:

Erstens: Soziale Ziele können weitgehend gerade durch die freiheitsschützenden und -stärkenden Institutionen des Marktes und des Wettbewerbs erreicht werden. Franz Böhm hat den Wettbewerb einmal "das genialste Entmachtungsinstrument" genannt. Und nirgendwo gibt es größere Chancen für sozialen Aufstieg durch eigene Leistung als in einer funktionierenden und offenen Marktwirtschaft. Deswegen ist marktwirtschaftliche Ordnungspolitik sehr wohl auch ein wesentliches Stück Sozialpolitik.

Zweitens: Soziale Marktwirtschaft kann kein schlichtes Umverteilungskonzept sein. Ludwig Erhard hat mit "Wohlstand für alle" nicht einen Wohlstand gemeint, der uns in den Schoß fällt oder vom Staat zum Null-Tarif vermittelt wird. Gemeint war ein Wohlstand für alle, der durch Leistung gemeinsam erwirtschaftet wird und daher zugleich hohen und steigenden Reallohn sowie ein zunehmendes Maß an sozialer Sicherung bedeuten konnte.

Soziale Sicherung kann also nicht in erster Linie eine Frage der guten Absichten und der sozialpolitischen Details sein. Sie ist in erster Linie eine Frage der Leistungskraft der Volkswirtschaft. Jeder Versuch staatlicher Umverteilung, der die volkswirtschaftliche Leistungskraft überfordert, ist zum Scheitern verurteilt.

Hinzu kommt: Nicht jede Umverteilung ist sozial. Es kann nicht die sozialstaatliche Aufgabe sein, Versorgung für alle zu gewährleisten und jedes denkbare Risiko für jeden denkbaren Personenkreis abzudecken. Das wäre falsch verstandene Solidarität und falsch verstandene Subsidiarität. Natürlich geht es bei der Subsidiarität auch nicht darum, die Gemeinschaft nur noch als Lückenbüßer zu verstehen - darauf hat Oswald von Nell-Breuning zu Recht hingewiesen. Richtig verstandene Subsidiarität wendet sich aber gegen ein Übermaß an Staatsinterventionen, die der Entfaltung eigener Selbstverantwortung im Wege stehen. Denn am Ende des Versorgungsstaates, von Ludwig Erhard als "moderner Wahn" bezeichnet, steht der "soziale Untertan" und nicht der eigenverantwortliche Bürger.

2. Das Denken in Wahlperioden
Die falsche Auslegung des Sozialen resultiert nicht zuletzt aus der Tatsache, dass Regierungen in der Demokratie häufig Anreizen
oder sogar Zwängen ausgesetzt sein, in kurzen Zeithorizonten und Wirkungsketten zu denken. Der demokratisch und für eine begrenzte Zeit gewählte Politiker ist vor allem auf die Wahlperiode fixiert. Für ihn sind daher solche Maßnahmen besonders attraktiv, die eine schnelle und deutlich sichtbare Wirkung hervorrufen und seine Bereitschaft belegen, vorhandene Probleme "anzupacken". Der demokratische Entscheidungsprozess tendiert somit zum staatlichen Aktionismus, der auf die "Faszination des Unmittelbaren" setzt, wie es der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung genannt hat.
Belastende Neben- und Fernwirkungen staatlicher Maßnahmen treten oftmals erst nach vielen Jahren auf, sei es etwa bei der Einführung und Beibehaltung von nicht dauerhaft finanzierbaren Sozialleistungen oder bei der Kreditfinanzierung staatlicher Maßnahmen. Der Zusammenhang mit früheren Interventionen ist dann kaum noch zu erkennen. Die mittelbaren und die langfristigen Wirkungen staatlicher Maßnahmen werden deswegen zumeist vernachlässigt.

3. Starker Einfluss von Interessengruppen
Es wäre allerdings falsch, das Übermaß an staatlichen Interventionen und Umverteilungsmaßnahmen allein den Politikern anzulasten. Auf den politischen Entscheidungsprozess wirkt eine Vielzahl organisierter Interessengruppen ein. Diese erfüllen in der Demokratie zwar einerseits eine unverzichtbare Informationsfunktion, da sie die zahlreichen in der Bevölkerung vorhandenen Bedürfnisse und Interessen artikulieren. Andererseits haben die "pressure-groups" zunächst das Interesse der eigenen Klientel im Auge.

Die Möglichkeit staatlicher Interventionen ist für organisierte Interessengruppen eine ständige Versuchung, öffentliche Unterstützung zu fordern. Nicht selten wird versucht, den Forderungen eine höhere Durchsetzungskraft zu verleihen, indem die staatliche Begünstigung als Mittel zur Erreichung von mehr sozialer Gerechtigkeit dargestellt und mit der Aura des Gemeinwohls umgeben wird. Die Beispiele sind vielfältig: Erhaltungssubventionen als soziales Gebot, Arbeitsplatzsicherheit als soziale Forderung, Regulierungen und Auflagen als Schutz sozialer Besitzstände. Im Namen der Gerechtigkeit blüht dann der Wildwuchs interventionistischer Einzelforderungen. Diese unzulässige Vergröberung des sozialen Gedankens erweist sich aber als irreführend; vermeintlich soziale Maßnahmen werden dann zu einer Bedrohung des Gemeinwesens.

Politiker sollten also bei ihren Entscheidungen nicht nur auf die unmittelbaren Effekte einer Maßnahme schauen. Sie müssen die indirekten Folgewirkungen berücksichtigen und die Bürger von der Notwendigkeit einer ordnungskonformen Politik überzeugen. Ludwig Erhard hat gezeigt, dass sich auch so Wahlen gewinnen lassen. 

V. Verändertes Umfeld und neue Wettbewerbsbedingungen

1. Der globale Wettbewerb
Die Fehlentwicklungen der vergangenen Jahrzehnte machen die Erneuerung unseres Wirtschafts- und Sozialsystems dringend notwendig. Reformen werden umso dringlicher, weil sich zu Beginn des 21. Jahrhunderts auch Rahmenbedingungen verändern. Sowohl die Globalisierung der Wirtschaft als auch die Öffnung und Erweiterung der EU sind Prozesse, die den internationalen Wettbewerb der Standorte intensivieren. Die Unternehmen und die Kapitalgeber können heute viel leichter zwischen verschiedenen Investitionsstandorten auswählen und sich beispielsweise einer hohen Besteuerung oder einer restriktiven Regulierung entziehen. Strukturelle Fehlentwicklungen in einem Land werden in Zeiten des globalisierten Wettbewerbs schonungslos aufgedeckt.

Die zunehmende Integration der Weltmärkte ist aber gerade für ein Land wie Deutschland, dessen Wohlstand zu einem großen Teil auf der Einbindung in den internationalen Handel basiert, mit großen Chancen verbunden. Die Politik hat die Aufgabe, den Menschen diese Chancen zu verdeutlichen und die Ängste vor den notwendigen Anpassungen zu nehmen. Der völlig falsche Weg wäre es, sich mit wettbewerbsbeschränkenden Maßnahmen von der Öffnung der Märkte abkoppeln zu wollen. Die mögliche Wohlstandsmehrung durch Spezialisierung bliebe ungenutzt, die Wachstums- und Beschäftigungschancen würden insgesamt verschlechtert. Notwendig ist vielmehr, den Herausforderungen offensiv entgegen zu treten, attraktive Rahmenbedingungen für Investitionen zu schaffen und sich so auch unter den veränderten Bedingungen im internationalen Wettbewerb zu behaupten.

2. Innovative Technologien und neue Märkte
Die neuen Informations- und Kommunikationstechnologien haben entscheidend zur Veränderung des wirtschaftlichen Umfelds beigetragen. Heute können Informationen in einer Geschwindigkeit gewonnen und übermittelt werden, die bis vor wenigen Jahren noch undenkbar war. Die Markttransparenz hat sich um ein Vielfaches erhöht und den Wettbewerb erheblich intensiviert. Käufer und Kunden können so die Preise und Qualitäten vieler Waren und Dienstleistungen ohne großen Aufwand miteinander vergleichen.

Die informationstechnische Revolution beschleunigt nicht nur den Datenverkehr, sie eröffnet zugleich eine Vielzahl neuer Märkte und bringt neue Arbeitsplätze. Neben den Branchen, die sich unmittelbar mit den neuen Technologien befassen, werden auch zahlreiche Dienstleistungen von ihnen erfasst. Das Spektrum reicht vom Mobilfunk bis zu den Bank- und Investmentbranchen.

Fast jeder zweite Erwerbstätige ist in Deutschland mittlerweile damit befasst, Daten und Informationen zu gewinnen, zu verarbeiten und geschäftlich nutzbar zu machen. Es wird immer deutlicher, dass das Wissen, seine Gewinnung und seine Umsetzung in Leistungen oder Produkte zum entscheidenden wirtschaftlichen Rohstoff wird. Das erfordert zusätzliche Anstrengungen sowohl von jedem einzelnen Erwerbstätigen, der sich laufend fortbilden muss, als auch von der Politik, die auf die Veränderungen angemessen reagieren muss. Ein modernes und leistungsfähiges Bildungs- und Ausbildungssystem wird zu einem Schlüsselfaktor für die Wettbewerbsfähigkeit eines jeden Landes - auch des unseren. 

VI. Die Erneuerung der Sozialen Marktwirtschaft

1. Rückbesinnung auf die Grundprinzipien
Unter den Bedingungen der informationstechnologischen Revolution und des sich weiter verschärfenden internationalen Wettbewerbs muss es gelingen, wirtschaftliche Dynamik wiederzugewinnen, den Beschäftigungsstand nachhaltig zu erhöhen und angemessene Sozialstandards zu gewährleisten. Wenn wir diese Ziele erreichen wollen, müssen wir neue Wege beschreiten. Wir müssen die Fehlentwicklungen der vergangenen Jahre und Jahrzehnte korrigieren und die Veränderungen des weltwirtschaftlichen Umfelds offensiv annehmen.

Unser Wirtschafts- und Sozialsystem muss einer nachhaltigen Erneuerung unterzogen werden. Die Soziale Marktwirtschaft zu erneuern, bedeutet, sich wieder auf die Grundprinzipien Ludwig Erhards zu besinnen. Eigeninitiative, Leistungsbereitschaft, Wettbewerb - dieser Dreiklang bringt die zentralen Faktoren zum Ausdruck, die unsere Soziale Marktwirtschaft zum Erfolg geführt haben. Sie müssen wieder eine stärkere Bedeutung gewinnen.

Aufgabe des Staates ist es dabei, verlässliche Rahmenbedingungen zu schaffen, die Investitionen, unternehmerische Initiative und Innovationen stimulieren und die sich im internationalen Wettbewerb als konkurrenzfähig erweisen. Die von der Deutschen Bischofskonferenz Ende der neunziger Jahre einberufene Expertengruppe für Wirtschafts- und Sozialpolitik hat zurecht darauf hingewiesen, dass wir einen starken aber schlanken Staat brauchen, der Bürgern und Unternehmen die notwendigen Freiräume gewährt, um flexibel auf neue Entwicklungen reagieren zu können: "Durch die Globalisierung und den europäischen Einigungsprozess wird es wichtiger, dass sich der Staat auf seine zentralen Aufgaben konzentriert. Gerade in der Beschränkung auf wohldefinierte Aufgaben (...) und in der Rückgewinnung seiner Unabhängigkeit gegenüber Interessengruppen liegt der Schlüssel zu einem leistungsstarken Staat."

Bei der Neubesinnung auf die Grundsätze der Sozialen Marktwirtschaft geht es nicht zuletzt darum, zu einer klaren Definition des Sozialen zu kommen. Die elementarste Form sozialer Sicherung liegt in der Sozialen Marktwirtschaft darin, jedermann die Möglichkeit zu geben, für sich und seine Familie den Lebensunterhalt zu verdienen. Arbeitslosigkeit ist daher die eigentliche soziale Frage unserer Zeit. Ein Übermaß gut gemeinter sozialstaatlicher Maßnahmen, die - wenn auch unbeabsichtigt - Neueinstellungen erschweren und die Arbeitslosigkeit erhöhen, führt letztlich zur Ausgrenzung der Betroffenen aus der Gesellschaft.

Den hohen Stellenwert der Integration Arbeitsloser für das Soziale betont auch die Expertengruppe der Bischofskonferenz, die ihrem Memorandum den Titel "Mehr Beteiligungsgerechtigkeit" gegeben hat: "Es kommt darauf an, allen - je nach ihren Fähigkeiten und Möglichkeiten - Chancen auf Teilhabe und Lebensperspektive zu geben, statt sich damit zu begnügen, Menschen ohne echte Teilhabe lediglich finanziell abzusichern. Deshalb muss die Verwirklichung von Beteiligungsgerechtigkeit, die sich von der Würde des Menschen herleitet, oberste Priorität in dem politischen Reformprozess haben. Da die Teilhabechancen in vielen Lebensbereichen faktisch an die Erwerbsarbeit geknüpft sind, ist es ein Gebot der Gerechtigkeit, die Teilnahmechancen auf dem Arbeitsmarkt zu verbessern." Ob eine staatliche Maßnahme also als sozial bezeichnet werden kann, muss sich heute nicht zuletzt daran messen lassen, wie sie sich auf die Beschäftigungschancen der Menschen auswirkt.

2. Hauptpunkte der Erneuerung
Für mehr wirtschaftliche Dynamik und eine nachhaltige Erhöhung der Beschäftigung sind entschiedene Reformen notwendig. Die Handlungsanleitungen für diese Reformen sind aus den Grundsätzen der Sozialen Marktwirtschaft abzuleiten. Auf allen zentralen Reformfeldern, sei es der Arbeitsmarkt, der Sozialstaat, das Steuer- oder das Bildungssystem, heißen die Leitlinien der notwendigen Veränderungen: Mehr Wettbewerb, weniger staatliche Bevormundung, mehr Verantwortung des Einzelnen für sein Schicksal und mehr Freiraum für Eigeninitiative.

Auf dem Arbeitsmarkt bedeutet das vor allem, beschäftigungshemmende Vorschriften abzubauen und wirksame Anreize zur Arbeit zu schaffen. Gesetze und Tarifverträge, welche die arbeitsplatzbesitzenden "Insider" zwar bestens absichern, aber gleichzeitig den arbeitslosen "Outsidern" Beschäftigungschancen nehmen, gehören konsequent auf den Prüfstand. Die notwendigen Reformen fangen bei einem weniger rigiden Kündigungsschutz an und gehen bis zur Unterstützung der Arbeitsaufnahme von geringqualifizierten Arbeitslosen durch befristete Kombilohn-Modelle. Deregulierung des Arbeitsmarktes und mehr Flexibilität für die Betriebe haben zum Beispiel in den Niederlanden und in England zu einer deutlichen Ausweitung der Beschäftigung geführt. Wenn wir das Beschäftigungsziel wirklich Ernst nehmen, sollten wir uns an diesen Erfolgsbeispielen orientieren.

In den Sozialversicherungssystemen muss der Weg zur ergänzenden privaten Vorsorge weitergegangen werden. Hier sind Optionen und Wahlmöglichkeiten das geeignete Mittel zur Selbststeuerung. Durch Basispakete und ergänzende Wahltarife sollte den Bürgern eine weitgehende Entscheidungsfreiheit darüber gegeben werden, wie viel Schutz über eine verpflichtende Grundversorgung hinaus gewünscht wird. Wo möglich sollte die kollektive Pflichtversicherung entfallen und durch eine Versicherungspflicht ersetzt werden: Alle müssen sich versichern, sind in der Wahl des Versicherungsunternehmens aber frei. So viel Zwang wie nötig, so viel Freiheit wie möglich - das ist die Devise eines modernen Sozialversicherungssystems.

Wissen ist der entscheidende Rohstoff in der Informationsgesellschaft, der Rohstoff des 21. Jahrhunderts. Wir müssen deshalb mehr Tempo und mehr Effizienz in unser Bildungssystem bringen. Unsere Schulen und Hochschulen brauchen mehr Autonomie - auch finanzielle. Sie sollten die Möglichkeit haben, ein spezifisches Profil hinsichtlich der Lehrangebote, der Forschungsfelder, der Transfer- und Weiterbildungsangebote etc. zu entwickeln. Mit wachsender Vielfalt wird auch die Qualität der Bildung steigen.

Neben diesen zentralen Zukunftsfeldern sind in vielen anderen Bereichen Reformen erforderlich, sei es bei der Privatisierung von Staatsunternehmen, beim Abbau wettbewerbsverzerrender Subventionen, bei der Flexibilisierung der Tarifverträge usw. Zwar hat es in jüngster Zeit verhaltene positive Ansätze gegeben; hier sind vor allem die Steuerreform, die Anstrengungen zum Abbau der Staatsverschuldung und der Einstieg in die private Altersvorsorge zu nennen. Diese Ansätze sind aber nicht weitgehend genug, ihnen stehen neue Interventionen gegenüber - gerade auf dem Arbeitsmarkt - und sie können nicht darüber hinwegtäuschen, dass wir bei der Erneuerung der Sozialen Marktwirtschaft immer noch am Anfang stehen. 

VII. Ein Erfolgsrezept für die Zukunft

Wilhelm Röpke hat einmal die Soziale Marktwirtschaft als das "echte und einzige Programm einer Ordnung in Freiheit" bezeichnet. Unter einer solchen Überschrift kann man weder bequeme Fragen noch bequeme Antworten erwarten, wohl aber Aufgaben und Herausforderungen sichtbar machen.

Keine Frage: Die Erneuerung unserer Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung ist mit großen Anstrengungen verbunden. Es besteht aber keinerlei Grund, pessimistisch in die Zukunft zu blicken. Denn die Soziale Marktwirtschaft "ist geschaffen worden, (...) um den freien Kräften die Möglichkeit der Anpassung an eine sich wandelnde Situation zu geben" (Müller-Armack). Unsere Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung ist also - bei aller dauerhaften Geltung ihrer Prinzipien - kein starres, in sich abgeschlossenes System, sondern in hohem Maße offen und anpassungsfähig.

Die richtig verstandene Soziale Marktwirtschaft ist daher auch ein erfolgversprechendes Konzept für die Zukunft. Unsere Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung "richtig zu verstehen" bedeutet, sich auf ihre Grundprinzipien zu besinnen und die notwendigen Reformen entschlossen in Angriff zu nehmen. Gefordert ist dabei nicht nur die Politik, der nur allzu gerne pauschal die Schuld für Fehlentwicklungen zugeschoben wird. Gefordert ist jeder Einzelne, mehr Verantwortung für sich und sein persönlichen Umfeld zu übernehmen und weniger beim Staat und "den anderen" Hilfe zu suchen. 

Hans Tietmeyer über die neue soziale Marktwirtschaft Ludwig Erhard: Der Vater der Sozialen Marktwirtschaft

Aktuelle Erhard-Biografie: Der Vater der Sozialen Marktwirtschaft

1962 begann der INSM-Kuratoriumsvorsitzende Hans Tietmeyer seine berufliche Laufbahn im Ministerium von Ludwig Erhard. "Ludwig Erhard. Der Wegbereiter der sozialen Marktwirtschaft" - unter diesem Titel legte Alfred C. Mierzejewski, Professor für deutsche Geschichte an der University of North Texas, eine umfassende Biografie des Mannes vor, der Hans Tietmeyer neben seinem Lehrer Alfred Müller-Armack maßgeblich prägte. Zitat aus einer Rezension der Frankfurter Rundschau über die Biografie des Professors aus Nürnberg, der unter dem Titel Soziale Marktwirtschaft vehement für mehr Eigeninitiative, Wettbewerb und Unternehmergeist eintrat: "Mierzejewski schreibt eingängig und verständlich. (...) So handelt es sich hier um eine lehrreiche, lieb gewordene Vorurteile entschieden korrigierende Einführung in die Frühgeschichte der sozialen Marktwirtschaft."