Soziale Marktwirtschaft
Gastbeitrag #SchwarzeNull

Vom Rauchen, Schuldenmachen und der Rückfallgefahr

Seit einigen Monaten debattieren Ökonomen und Politiker über das Für und Wider der Schwarzen Null und der Schuldenbremse. In einem Gastbeitrag schreibt Wolfgang Clement, Bundesminister für Wirtschaft und Arbeit a.D. und Kuratoriumsvorsitzender der INSM, was das Rauchen und Schuldenmachen gemeinsam haben und warum die Rückfallgefahr so groß ist. Der Beitrag ist zuerst in der Welt am Sonntag am 6. Oktober erschienen.

Link zur Welt am Sonntag

Haben Sie schon mal versucht, sich etwas lang Geübtes abzugewöhnen? Ich war über viele Jahre und ausgiebig Raucher. Ich wusste, wie gesundheitsschädlich das war. Ich konnte riechen, wohin sich der Rauch meiner Zigaretten ausbreitete. Ich konnte sehen, wer von dem Rauch meiner Zigaretten belästigt wurde. Ich wusste, dass es keinen vernünftigen Grund gab zu rauchen. Ich hab’s trotzdem getan. Aber irgendwann wurde auch mir klar, dass ich ohne Zigaretten ein besseres, gesünderes, tatsächlich auch freieres Leben würde führen können – und hörte auf. Nicht ein bisschen, sondern ganz. Ich habe meiner Freiheit eine Grenze gesetzt. Ich habe diese Entscheidung nie bereut. Was das mit der Schuldenbremse und der Schwarzen Null zu tun hat? Ich meine: einiges!

Man muss weder Volkswirt noch schwäbische Hausfrau sein, um zu erkennen, dass man nicht in jedem Monat mehr ausgeben kann, als man verdient. Jeder Politiker weiß, wie gefährlich Schulden sind. Vor allem, wenn man Tag für Tag, Jahr für Jahr, Wahlperiode für Wahlperiode immer mehr Schulden macht. Jeder Politiker kann an der Haushaltsbilanz sehen, wie der Kapitaldienst die frei verfügbaren Mittel immer weiter einschränkt. Jeder Politiker spürt den wachsenden Schuldendruck. Trotzdem haben Generationen von Politikerinnen und Politikern Schulden gemacht. Auch ich. Im Gegensatz zu den Zigaretten hat sich das kreditfinanzierte Geld zum Glück nicht vollständig in Rauch aufgelöst. Viele sinnvolle Dinge wurden damit finanziert. Aber viel Geld wurde für Dinge ausgegeben, die längst vergessen wären, wenn da nicht noch die Schulden wären. Irgendwann aber hat eine deutliche Zweidrittelmehrheit in Bundestag und Bundesrat erkannt, dass es so nicht weitergehen darf. Da ein einzelner Mensch mit dem Rauchen leichter aufhören kann als ein Staat mit dem Schuldenmachen und ein Rückfall ausgeschlossen werden sollte, beschloss man 2009 die Schuldenbremse und leitete damit eine historische Wende ein: Seit Jahren sinken die Schulden, die wir unseren Kindern und Kindeskindern hinterlassen.

Jetzt dürfen Bund und Länder nur noch so viel Geld ausgeben, wie sie einnehmen. Für Krisenzeiten gibt es Ausnahmen. Zwar darf der Bund auch in der „Normallage“ jedes Jahr ein paar Milliarden neue Schulden machen, aber dank der gewaltig angestiegenen Steuereinnahmen schaffen wir es derzeit nicht einmal, all das eingenommene Geld sinnvoll zu investieren. Im ersten Halbjahr 2019 hatte allein der Bundesfinanzminister ein Plus von fast 18 Milliarden Euro in der Kasse.

Manchmal, wenn ich abends in meinem Gartenlokal sitze und vom Nachbartisch eine Rauchwolke herüberweht, flammt kurz eine Erinnerung an frühere Zeiten in mir auf: Jetzt so eine Zigarette, ganz entspannt, das wär’ doch was … Zum Glück lösen sich solche Gedanken schnell in Rauch auf, denn die Gefahr, rückfällig zu werden, darf unsereiner nicht unterschätzen. Was das mit Schwarzer Null und Schuldenbremse zu tun hat?

Derzeit debattieren Deutschlands Ökonomen sehr leidenschaftlich über Sinn und Zweck der Schwarzen Null und der Schuldenbremse und ob wir nicht doch wieder mehr Geld ausgeben sollten, als wir einnehmen. Für besseres Klima, mehr Digitalisierung, frischere Infrastruktur, alles toller, schöner, wichtiger. Manche halten die Schwarze Null für einen politischen Fetisch, der Deutschland wie ein Mühlstein um den Hals hänge. Jetzt sei die Gelegenheit günstig, frische Schulden zu machen. Einen entscheidenden Faktor vergessen viele Ökonomen in ihren Kalkulationen: die Politik. Genauer: die allzu menschliche Seite von Politik. In den Überlegungen der Ökonomen fehlt etwas, und das ist der Handlungsdruck des politischen Alltags, die fast irrationale Komponente der Handelnden, die das Richtige wissen können und dennoch das Falsche tun. Und das ändert – leider – vieles.

Aus eigener Erfahrung glaube ich zu wissen, dass Politiker vor allem dann zu vernünftigen Kompromissen, kreativen Lösungen und klaren Entscheidungen kommen, wenn die Entwicklung ganz eng wird und kaum noch ein Ausweichen möglich erscheint. Als die rot-grüne Bundesregierung zu Anfang dieses Jahrhunderts politisch eingeklemmt war zwischen einem kaum zu finanzierenden Sozialstaat und einer scheinbar endlos ansteigenden Arbeitslosigkeit, ließ der sich aus dieser Lage ergebende Druck die Agenda 2010 entstehen. Hätte die ohnehin in Rekordgeschwindigkeit ansteigende Staatsverschuldung den Ausweg in Richtung von noch mehr Schulden erlaubt – das verbot aber das EU-Recht –, so wäre vom Fördern und Fordern vermutlich nur das Fördern übrig geblieben. Die Arbeitslosigkeit hätte sich nicht halbiert, sondern wäre mit Sicherheit weiter angestiegen. Hätten 2007 die langfristigen Haushaltsprognosen den Ausweg in Richtung von noch mehr Schulden erlaubt, hätten Angela Merkel und Franz Müntefering vermutlich einfach noch mehr Steuergeld in die Rentenkasse geschoben und nicht die Rente mit 67 beschlossen. Unsere Kinder und Enkel würden in ein paar Jahren die Folgen des demografischen Wandels noch schmerzhafter als ohnedies zu spüren bekommen.

Statt sich die Tortur langer Verhandlungen und politisch schmerzhafter Kompromisse anzutun, wählen Politikerinnen und Politiker gerne die Abkürzung: den Griff in vermeintlich immer volle öffentliche Kassen. Aus A oder B wird A plus B. Das konnte man wenige Jahre später erkennen. Statt sich die Rente mit 63 und die Mütterrente gegenseitig auszureden, haben SPD und Union 2013 einfach beides beschlossen. Statt sich Baukindergeld und doppelte Haltelinie für die Rente gegenseitig auszureden, wurde 2018 einfach beides beschlossen. Die Liste lässt sich leider fortsetzen, das Muster ist immer dasselbe: Die Beschlüsse gehen zulasten der nächsten Generationen, sie sind nicht nachhaltig! Sie kamen nur zustande, weil vorübergehend Geld im Überfluss da zu sein schien. Die starke Wirtschaft bescherte Deutschland jahrelang steigende Steuereinnahmen. Der finanzielle Druck zum Kompromiss fehlte. Die Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft fordert daher eine grundgesetzliche Pflicht zur Nachhaltigkeit, damit sich solche Fehler nicht wiederholen. Haushaltsspielraum hat auf Politiker eine verdammt große Anziehungskraft, da braucht es eine nachdrückliche Bremse!

Nun gibt es in den Berechnungen einiger Ökonomen wohlklingende Argumente für neue Schulden. Wer will schon gegen Investitionen in die Infrastruktur, in klimaschonende Technologien, in Bildung, Wohnraum und Digitalisierung sein? Aber die Entscheidung für oder gegen diese Projekte darf nicht mit einem Griff in die Tasche unserer Nachfahren finanziert werden. Und diese Prämisse gilt explizit auch für Schattenhaushalte und all die mehr oder weniger kreativen Ideen, mit denen die offizielle Staatsschuldendefinition umgangen werden soll. Am Ende sind Schulden immer Schulden. Es ist auf absehbare Zeit genug Geld da, man muss es nur für klar definierte, überzeugend zu vermittelnde Ziele in vernünftigen Maßen einsetzen, statt mit offenkundigen Wahlgeschenken zu hantieren. Der politische Diskurs braucht das Entweder-oder und nicht das Sowohl-als-auch – und manchmal auch das Weder-noch. Die Schuldenbremse entlastet die Politik von der Entscheidung, neue Schulden zu machen oder es zu lassen. Sie zwingt die Politik, für ihre Projekte mit hart ausgehandelten Kompromissen Maß und Mitte zu finden. Politik braucht Freiheit, aber diese Freiheit braucht auch Grenzen. Und jemanden, der darauf achtet, dass die Grenzen eingehalten werden. Noch sorgt das Grundgesetz für die Einhaltung der Schuldenbremse. Daran darf nicht werden. Und das Ziel einer Schwarzen Null im Bundeshaushalt darf erst aufgegeben werden, wenn es wirklich nicht mehr anders geht. Wer sich politischen Respekt verdienen will, muss Standhaftigkeit beweisen und darf der Versuchung zum Schuldenmachen nicht bei erster Gelegenheit nachgeben. Die Rückfallgefahr ist einfach zu groß.

Wolfgang Clement

Bundesminister für Wirtschaft und Arbeit a.D. und Kuratoriumsvorsitzender der INSM