Bildung
Dieter Lenzen

Wenig Zeit für viele Defizite

Dieter Lenzen im Rheinischen Merkur: Kinder sollen viel früher mit dem Lernen anfangen. Dafür müssen endlich die Voraussetzungen geschaffen werden.

8. November 2004

Dieter Lenzen Dieter Lenzen, Präsident der Freien Universität Berlin

Vor allem seit den siebziger Jahren war Bildungspolitik von Ideologie überlagert und nicht mehr an der Frage orientiert, was Schulen leisten müssen. Um diese Frage sehr direkt zu beantworten: Sie ist dazu da, damit wir auch künftig noch essen können. Damit wir das können, müssen wir ein Wirtschaftsstandort sein, an dem Geld verdient wird, an dem tüchtige Menschen entwickeln und produzieren.

Zusätzlich sind wir heute aber mit zwei weiteren Herausforderungen konfrontiert: Das ist zum einen der Globalisierungsprozess und zum anderen die dramatische Alterung der Gesellschaft. Die Zahl der Erwerbstätigen wird bis 2030 auf etwa 37 Millionen sinken. Immer weniger Jüngere kommen auf den Arbeitsmarkt. Umso wichtiger ist es, diesen Nachwuchs optimal auszubilden.

Unser Bildungssystem muss dazu erstens den Anteil der Hochqualifizierten höher treiben und gleichzeitig zweitens den Anteil derer, die schlicht nicht berufsbildungsfähig sind, deutlich senken. Dieser Anteil liegt heute bei fast 20 Prozent. Das ist ein katastrophales Versagen unseres Bildungssystems. Schon der gesunde Menschenverstand sagt, dass wir in der Wissensgesellschaft nicht damit leben können, dass jeder fünfte Schulabgänger nicht in der Lage ist, eine Ausbildung zu absolvieren.

Wo genau liegen die Defizite im Bildungssystem? Zunächst: Seine Inhalte sind wirklichkeits- und berufsfern. Zwei große Kompetenzblöcke fehlen: Basiskompetenzen und Schlüsselqualifikationen. Basiskompetenzen umschließen folgende Fähigkeiten: schriftliches und mündliches Beherrschen der Verkehrssprache, mathematische Modellierungsfähigkeit, IT-Qualifikation und das Beherrschen von mindestens einer Fremdsprache. Schlüsselqualifikationen sind das, was wir unser Leben hindurch im Beruf, aber auch im Privatleben benötigen: beispielsweise die Kommunikationsfähigkeit, wie man sie in einer Familie lernen sollte.

Ein weiteres Defizit: Die Lehr- und Lernmethoden hierzulande liegen unter internationalem Niveau. Zudem fehlt es den Schulen an unternehmerischer Orientierung: Der Gedanke, für sich selbst verantwortlich zu sein, wird seit dreißig Jahren für eher nebensächlich gehalten. Den Lehrenden fehlt es an Professionalität. Der Grund: Zu lange wurde die Beziehung zwischen Lehrern und Schülern im Wesentlichen als pädagogische Begegnung betrachtet. In den Hintergrund gerückt sind dabei die inhaltliche Seite und der Leistungsaspekt.

Ein weiteres Problem: Wir fangen zu spät an, unsere Kinder systematisch zu beschulen. Wir sind eines der wenigen Länder der Welt, das keine Ganztagsschule hat, mit dem Effekt, dass ein Kind in der Sekundarstufe I etwa 2800 Stunden weniger unterrichtet wird als in anderen Ländern. Die Zukunft der jungen Generation lässt sich aber eben nicht per "Halbtagsjob" vorbereiten.

Zudem haben wir hierzulande zu wenig Wettbewerb im Bildungswesen - auch mit privaten Schulen und Hochschulen. Diese würden auch die Leistungsbereitschaft unserer staatlichen Schulen erhöhen, aber vonseiten des Staates sowie auch der Lehrergewerkschaften, die um Einfluss fürchten, werden Privatinitiativen ausgebremst.

Zustand und Ausstattung deutscher Schulen und Hochschulen sind oft jämmerlich.