Standpunkt

"Der Fachkräftemangel ist hausgemacht"

Der Fachkräftemangel in Deutschland ist hausgemacht, sagen Prof. Dr. Michael Bräuninger und Prof. Dr. Thomas Straubhaar, Wirtschaftswissenschaftler am Hamburgischen WeltWirtschaftsInstituts in Kiel (HWWI). Ihre Begründung: Viel Potenzial bleibe ungenutzt. Um dies zu ändern, brauche es auch folgendes: Den Abschied von tradierten Rollenbildern.

29. Mai 2011

Ja, es ist richtig: Fachkräfte werden knapper. Die starke Konjunktur tut das eine. Die Schrumpfung der Bevölkerung sorgt für das andere. Dennoch: Die Klage über den Fachkräftemangel ist nur teilweise berechtigt. Denn sie lenkt davon ab, dass es in Deutschland ungenutzte Potenziale gibt. Sie wären bereit und auch fähig, die sich öffnende Lücke bei den Fachkräften zu füllen.

Die brachliegenden Fachkräfte zeigen sich bei gut ausgebildeten Frauen, die nicht entsprechend ihrer Qualifikationen und Wünsche erwerbstätig sind.

Viele Ältere würden gerne länger beschäftigt bleiben, weil Arbeit im Alter eben nicht nur Pein ist. Sie bringt auch Genugtuung, Anerkennung, soziale Kontakte und das Gefühl, gebraucht zu werden. Deshalb ist es für viele Menschen nicht eine Tortur, sondern ein Wunsch bis 67 oder darüber hinaus zu arbeiten. Wenn erfreulicherweise pro Dekade die Lebenserwartung um fast zwei Jahre steigt, ist es doch nichts als zwangsläufig, dass auch die Lebensarbeitszeit erhöht wird.

Und schließlich finden viele Menschen mit Migrationshintergrund in Deutschland nicht jene Jobs, die ihrem Können und Wollen entsprechen. Obwohl in Deutschland geboren und hier zur Schule gegangen, bleiben sie – bei gleichen Abschlüssen und Qualifikationen - häufiger erwerbslos als ihre deutschen Schulkollegen.

Kommt dazu, dass mit der seit dem 1.Mai auch gegenüber den osteuropäischen EU-Ländern gewährten Freizügigkeit eh das Reservoir an Fach- und Führungskräften größer geworden ist. Zusammengenommen wären hierzulande und in den EU-Nachbarländern unzählige Menschen bereit, in Deutschland mehr und anspruchsvoller zu arbeiten als das heute der Fall ist.
Werden die ungenutzten Potenziale gehoben, trifft man zwei Fliegen mit einem Schlag. Denn der Kampf gegen Unterbeschäftigung und Arbeitslosigkeit ist eben nicht nur ein Kampf für Vollbeschäftigung. Er ist auch ein Kampf gegen den Fachkräftemangel. Gelingt es, Ältere so gut in das Erwerbsleben zu integrieren wie Jüngere, Frauen so gut wie Männer und Menschen mit Migrationshintergrund so gut wie Menschen ohne Migrationshintergrund, dann verringert sich der Fachkräftemangel dramatisch.

Einiges ist dafür zu tun:

Erstens gilt es seitens der Unternehmen, Arbeitszeiten und Arbeitseinsätze so zu flexibilisieren, dass Ältere und Frauen bessere Chancen haben, Fach- und Führungsaufgaben zu übernehmen.

Entscheidend ist ein Perspektivenwechsel der Arbeitgeber. Veraltete historisch geprägte Rollenbilder von Arbeit, Beruf und Familie müssten durch zeitgerechte der heutigen Wirklichkeit entsprechende Verhaltensweisen ersetzt werden.

So sollten bei der Bezahlung der Belegschaften nicht Input, sondern Output, also nicht Anwesenheit, sondern Leistung belohnt werden. Das würde den Beschäftigten in verstärktem Masse ermöglichen, Arbeitszeit und Arbeitsort nach eigenem Gutdünken zu wählen, solange die Ergebnisse stimmen. Die alleinerziehende Mutter könnte dann vermehrt von zu Hause aus, in den frühen Morgen- oder späten Abendstunden ihr Pflichtenheft abarbeiten. Die ältere Witwe würde vielleicht gerne sonntags oder während der allgemeinen Schulferienzeiten jüngere Kolleginnen mit Kindern entlasten.

Generell geht es darum, Menschen zu ermöglichen, verschiedene Rollen miteinander zu vereinbaren, insbesondere für Frauen die Möglichkeit, geleichzeitig als Mutter und im Beruf erfolgreich sein zu können.

Zweitens gehört seitens der Gesellschaft dazu, als atypisch abgestempelte Beschäftigungsverhältnisse neu und positiver zu beurteilen. Was vor ein paar Generationen in der Tat die Regel war, nämlich die Vollzeiterwerbstätigkeit des (männlichen) Familienernährers, meist ein Berufsleben lang beim selben Arbeitgeber, am selben Ort und in derselben Branche, ist heute schon die Ausnahme.

Teilzeitarbeit alleinerziehender Elternteile ist häufiger geworden und oft für die Betroffenen die einzige Chance, einer Erwerbstätigkeit nachgehen zu können.

Für Ältere ist eine projektbezogene Zeitarbeit eine geschätzte Option der Gelegenheitsarbeit, die zwischen zwei Jobs Raum für längere Auszeiten ermöglicht. Häufige Orts- und Berufswechsel, der Wunsch und die Notwendigkeit sich fortzubilden und weiter zu qualifizieren sind weitere Brüche der Erwerbsbiographie, die eher zum Normalfall als zum atypischen Einzelfall werden.

Drittens müssen Arbeitnehmer ihre Anspruchshaltung korrigieren. Es gilt der Grundsatz, dass sich Löhne an der Leistung orientieren. Dabei spielen die Kunden die Schiedsrichter. Sie bestimmen, den Wert einer Leistung und welchen Preis sie für ihre Konsumgüter zu bezahlen bereit sind. Viele Arbeitnehmer erwarten, dass ihre Gehälter allein aufgrund des fortschrei-tenden Alters steigen. Dass kann nur gelten, wenn auch tatsächlich ihre Leistungsfähigkeit gestiegen ist.

Viertens hat die Politik die Aufgabe, sich besonders um Langzeitarbeitslose zu kümmern. Derzeit sind über eine Million Arbeitslose länger als ein Jahr arbeitslos.

Langzeitarbeitslosigkeit ist sehr häufig mit bestimmten individuellen Charakteristika verbunden. Sie führen zu geringen Einstellungschancen. Zu diesen Charakteristika gehören neben dem Alter insbesondere das Bildungsniveau und die familiäre Situation. So finden sich unter den Langzeitarbeitslosen vor allem Ältere, überproportional häufig gering Qualifizierte und auch besonders viele Alleinerziehende.

Bei der Beschäftigung von gering Qualifizierten besteht häufig das Problem, dass deren Produktivität nur geringe Löhne erlaubt. Gegebenenfalls liegen diese nur wenig über oder sogar unterhalb dessen, was gesellschaftlich als sozial akzeptable Einkommensuntergrenze betrachtet wird.

Um diese Problematik zu umgehen, fordern Teile der Politik Mindestlöhne. Diese würden aber nur in einigen Fällen tatsächlich zu einer besseren Entlohnung der gering qualifizierten Beschäftigten führen. In weiten Teilen würden die Mindestlöhne die Beschäftigung der gering Qualifizierten verhindern und damit das Problem der Arbeitslosigkeit vergrößern.

Klüger ist es, die lohnabhängigen Sozialversicherungsbeiträge abzusenken. Dies kann durch weitere Steuerfinanzierung geschehen. Alternativ könnte aber auch ein größerer Teil der Sozialabgaben unabhängig vom Einkommen erhoben werden. Ebenso könnten die Löhne von bestimmten Arbeitnehmern durch Zuschüsse ergänzt werden. Diese müssten so gestaltet sein, dass die Gesamteinkommen nach Steuern und Transfers steigen, wenn der Lohn zunimmt. So haben die Beschäftigten ein Interesse an höheren Löhnen und es ist nicht möglich, dass die Arbeitgeber den Lohn auf Kosten der Allgemeinheit nach unten drücken.

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