Staatslohn versus Tarifautonomie

10 Fakten zum Mindestlohn

Gut gemeint ist das Gegenteil von gut gemacht. Das gilt auch für die geplante Erhöhung des allgemeinen gesetzlichen Mindestlohns in Deutschland zum 1. Oktober 2022 auf 12 Euro pro Stunde – durch Beschluss der Politik.

28. März 2022

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Fakt 1: Mindestlohn wurde regelmäßig spürbar erhöht.

Fakt 2: Lohnfindung ist Aufgabe der Tarifpartner.

Fakt 3: Mindestlohnkommission ist ein Kompromiss.

Fakt 4: Regierung vollzieht Paradigmenwechsel.

Fakt 5: Arbeitslosigkeit bleibt größtes Armutsrisiko.

Fakt 6: Mindestlohn von 12 Euro ist ein gewagtes Experiment.

Fakt 7: Mindestlohn rettet Gewerkschaften nicht.

Fakt 8: Orientierung am Medianlohn ist nicht sachgerecht.

Fakt 9: Andernorts subventioniert der Staat den Mindestlohn.

Fakt 10: Politische Glaubwürdigkeit steht auf dem Spiel.

Ein Staatslohn gefährdet die Grundprinzipien unserer Wirtschafts- und Arbeitsordnung in der Sozialen Marktwirtschaft. Denn die politisch verordnete Erhöhung untergräbt die vom Grundgesetz geschützte und über Jahrzehnte bewährte Tarifautonomie. Diese legt fest, dass Vertreterinnen und Vertreter der Arbeitnehmer- und Arbeitgeberseite angemessene Löhne finden, die der gesamtwirtschaftlichen Situation Rechnung tragen – ohne die Einmischung des Staates.

Offen ist zudem, wie es nach dem Eingriff der Politik weitergehen soll. Es stellt sich die Frage nach der künftigen Rolle der Mindestlohnkommission. Sie hat die Lohnuntergrenze bislang mit Augenmaß weiterentwickelt.

Diese Faktensammlung stellt die wichtigsten Punkte rund um den Mindestlohn in Deutschland dar: Wer bekommt ihn, was sind die Ziele, wer entscheidet und wie sieht es in anderen Ländern Europas in Sachen Lohnuntergrenzen aus?

Mindestlohn wurde regelmäßig spürbar erhöht.

Seit dem 1. Januar 2015 gibt es in Deutschland einen allgemeinen gesetzlichen Mindestlohn. Zur Einführung betrug er 8,50 Euro pro Stunde. Seither sind sieben Erhöhungen beschlossen worden, die bis zum 1. Juli 2022 umgesetzt werden sollen. Dann ist der Mindestlohn seit seiner Einführung um insgesamt 22,9 Prozent gestiegen. Aktuell liegt er bei 9,82 Euro und steigt im Juli auf 10,45 Euro.

Die Ampel-Regierung will den Mindestlohn zum 1. Oktober auf 12 Euro anheben. Doch das ist nicht unproblematisch, denn in Deutschland verhandeln grundsätzlich die Tarifpartner – also Vertreter von Arbeitnehmern und Arbeitgebern – die Löhne, und nicht der Staat.

Quelle: Institut der deutschen Wirtschaft, 2022

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Lohnfindung ist Aufgabe der Tarifpartner.

Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände dürfen frei von staatlichen Eingriffen Vereinbarungen über Löhne und Arbeitsbedingungen treffen – in Form von Tarifverträgen.

Diese sogenannte Tarifautonomie ist sogar im Grundgesetz verankert (Artikel 9 Absatz 3). Der Gedanke dahinter: Die Tarifpartner wissen am besten, wie hoch der Lohn in einer Branche und für spezielle Jobs sein sollte, damit beide Seiten zufrieden sind. In Deutschland ist die Tarifautonomie zu einer tragenden Säule der Sozialen Marktwirtschaft geworden.

Oftmals gibt es deshalb auch branchenspezifische Mindestlöhne, die teilweise deutlich über dem gesetzlichen Mindestlohn liegen. Sie werden von den Tarifpartnern ausgehandelt.

Quelle: Statistisches Bundesamt, 2022

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Mindestlohnkommission ist ein Kompromiss.

Als die damalige Bundesregierung den Mindestlohn einführte, griff sie zwar in die Tarifautonomie ein. Sie gab aber zugleich das Versprechen ab, dass es sich um einen einmaligen Eingriff handeln würde.

In diesem Zusammenhang war die Einrichtung der Mindestlohnkommission ein Kompromiss im Sinne der Tarifautonomie. Die Kommission soll alle zwei Jahre in einer Gesamtabwägung prüfen, welche Höhe des Mindestlohns angemessen ist. Bei ihren Empfehlungen orientiert sich die Mindestlohnkommission nachlaufend an der Tarifentwicklung und hat einen Ermessensspielraum.

Nun brüskiert die Politik die Mindestlohnkommission: Durch die außerplanmäßige Erhöhung auf 12 Euro verschiebt die Regierung den turnusgemäß anstehenden Kommissions-Termin für eine Beschlussfassung zum künftigen Mindestlohn von Juni 2022 auf Juni 2023. Das Recht der Mindestlohnkommission ist damit suspendiert.

Quelle: Statistisches Bundesamt; Mindestlohnkommission; Institut der deutschen Wirtschaft, 2022

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Regierung vollzieht Paradigmenwechsel.

Die Einführung des allgemeinen gesetzlichen Mindestlohns 2015 begründete die Bundesregierung noch mit dem Schutz vor unangemessenen Niedrigstlöhnen. Die Ampel-Koalition führt für die Erhöhung auf 12 Euro jetzt sozialpolitische Erwägungen an: Neues Ziel des Mindestlohns ist eine angemessene gesellschaftliche Teilhabe.

Das ist ein Paradigmenwechsel: Der Mindestlohn soll sich nach den Vorstellungen der Politik künftig am sogenannten „Living Wage“ orientieren. In der politischen Debatte werden dazu 60 Prozent des Medianeinkommens als Orientierungsmarke genannt. Allerdings ist solch eine umfängliche Absicherung Aufgabe des Sozialstaats im Rahmen seiner Sozialpolitik, und nicht Sache der Betriebe.

Der Blick auf Daten der Bundesagentur für Arbeit zeigt aber ohnehin, dass Vollzeitbeschäftigte nur sehr selten wegen zu niedriger Einkünfte auf staatliche Transfers angewiesen sind.

Quelle: Bundesagentur für Arbeit

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Arbeitslosigkeit bleibt größtes Armutsrisiko.

Daten aus dem Sozio-oekonomischen Panel belegen, dass Arbeitslose über dreimal so oft von Armut bedroht sind wie Geringverdiener: 22 Prozent der Geringverdiener gelten als armutsgefährdet. Bei den Arbeitslosen sind es 69 Prozent. Sie müssen also mit weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens der Gesamtbevölkerung auskommen.

Auf diese Tatsache sollte die Politik ihr Augenmerk richten. Denn ein höherer Mindestlohn hilft all jenen ohne Job nicht. Mehr noch: Ein hoher Mindestlohn kann den Einstieg in den Arbeitsmarkt erschweren, unter Umständen sogar ganz verhindern. In jenen Branchen, in denen es aufgrund des deutlich höheren gesetzlichen Mindestlohns zu besonders starken Lohnsteigerungen kommt, könnten Stellen wegfallen.

Quelle: Sozio-oekonomisches Panel, Institut der deutschen Wirtschaft

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Mindestlohn von 12 Euro ist ein gewagtes Experiment.

Der Politik war es vor Einführung des Mindestlohns wichtig, dass die Lohnuntergrenze zu keinen Verwerfungen auf dem Arbeitsmarkt führt – „Beschäftigungsneutralität“ war das Gebot der Stunde. Um das zu erreichen, legte die damalige Regierung die Lohnuntergrenze mit 8,50 Euro nicht zu hoch und ermöglichte Übergangsregelungen bis Ende 2016.

Vom Mindestlohn direkt betroffen waren damals etwa vier Millionen Beschäftigungsverhältnisse und etwas mehr als 60 Tarifverträge. Der neue Mindestlohn von 12 Euro wird indes über sechs Millionen Beschäftigte betreffen und mehr als 160 Tarifverträge zumindest teilweise obsolet machen.

Hinzu kommen deutlich schlechtere gesamtwirtschaftliche Rahmenbedingungen als Mitte des letzten Jahrzehnts, die den Unternehmen momentan schon ohne höhere Lohnkosten zu schaffen machen.

Quelle: Bundesregierung, 2022; Institut der deutschen Wirtschaft, 2021; Mindestlohnkommission, 2016

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Mindestlohn rettet Gewerkschaften nicht.

Regelmäßig ist zu vernehmen, dass Unternehmen in Deutschland eine Tarifbindung scheuen, sich also auf keine Tarifverträge mehr einlassen. Das war auch ein Argument für die Einführung des Mindestlohns im Jahr 2015.

Doch nur knapp 16 Prozent jener Personen, die regelmäßig für das Sozio-oekonomische Panel befragt werden, gaben 2019 an, Gewerkschaftsmitglied zu sein. Fast 36 Prozent waren nicht in einer Gewerkschaft, profitierten aber gleichwohl von einem Tarifvertrag – weil die Firmen ihnen freiwillig Tariflohn zahlten.

Und: Schon die Einführung des Mindestlohns hat nichts daran geändert, dass immer weniger Menschen in Gewerkschaften organisiert sind. Im Westen Deutschlands sank der Organisationsgrad von 2008 bis 2018 von 19,8 auf 16,9 Prozent, hat die Allgemeine Bevölkerungsumfrage der Sozialwissenschaften ergeben.

Quellen: Allgemeine Bevölkerungsumfrage der Sozialwissenschaften (ALLBUS); Institut der deutschen Wirtschaft Köln, 2021

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Orientierung am Medianlohn ist nicht sachgerecht.

Die Bemühungen um einen gesetzlichen Mindestlohn von 12 Euro in Deutschland werden flankiert von einer europäischen Debatte. Die EU-Kommission hat Vorschläge gemacht, die Anpassung des Mindestlohns stärker an das allgemeine Niveau der Bruttolöhne und ihre Verteilung zu koppeln – konkret schwebt der EU-Kommission eine Orientierung der Mindestlöhne an 60 Prozent des Medianeinkommens vor.

Doch dieser Ansatz verkennt, dass der Lebensstandard von vielen weiteren Faktoren abhängt, etwa von der Wochenstundenzahl oder den Familien- und Wohnverhältnissen. Zudem sagt das Verhältnis des Mindestlohns zum Medianlohn – der Kaitz-Index – nichts über die Höhe des Mindestlohns aus. So lag der Mindestlohn in Portugal 2020 beispielsweise bei über 65 Prozent des Medians, betrug aber noch nicht einmal 4 Euro.

Quelle: Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliches Institut (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung, 2022

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Andernorts subventioniert der Staat den Mindestlohn.

Der Mindestlohn in Frankreich lag im Jahr 2020 mit 10,15 Euro tatsächlich über 60 Prozent des dortigen Brutto-Medianlohns und im Vereinigten Königreich mit umgerechnet 9,35 Euro bei fast 58 Prozent. In Deutschland waren es mit ebenfalls 9,35 Euro Mindestlohn knapp 51 Prozent.

So viel zur Theorie. Tatsächlich erlässt das Vereinigte Königreich Unternehmen die Arbeitgeberbeiträge zu den Sozialversicherungen für bis zu vier Beschäftigte, die zum Mindestlohn in Vollzeit arbeiten. Und in Frankreich profitieren Firmen davon, dass das Land die Sozialabgaben für Beschäftigte mit einem Gehalt bis zur 1,6-fachen Höhe des Mindestlohns umfassend reduziert. Die Subvention des Mindestlohns in Frankreich summierte sich so 2019 auf über 23 Milliarden Euro. Auf Deutschland übertragen entspräche das rund 33 Milliarden Euro. Hierzulande gibt es für Arbeitgeber aber keine Abfederung bei den Arbeitskosten.

Quelle: Hans-Böckler-Stiftung, 2022; Institut der deutschen Wirtschaft, 2021

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Politische Glaubwürdigkeit steht auf dem Spiel.

Während des Spiels die Regeln zu ändern, ist kein Fair Play. Doch genau das tut die Politik mit der deutlichen Erhöhung des Mindestlohns zum 1. Oktober 2022 per Gesetz. Das ist gefährlich. Denn auf Planungssicherheit und verlässlichen gesetzgeberischen Entscheidungen fußt Deutschlands wirtschaftlicher Erfolg. Dazu gehörte bislang auch das Vertrauen darauf, dass die Tarifpartner ihre Beziehungen weitestgehend autonom gestalten. Das war der Bundesregierung auch klar, als sie den Mindestlohn einführte, aber alles Weitere den Tarifpartnern in der Mindestlohnkommission überließ.

Nach dem „einmaligen Eingriff“ in die Tarifautonomie 2015 wäre die deutliche Erhöhung im Oktober 2022 der zweite „einmalige Eingriff“. Und es gäbe keinerlei Garantie dafür, dass nicht pünktlich zum nächsten Bundestagswahlkampf neue Mindestlohn-Höhen versprochen und bei einem Wahlerfolg auch umgesetzt würden.

Quelle: Bulletin der Bundesregierung, 2014

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Ausgewählte Quellen


Anpassung des gesetzlichen Mindestlohns
Gutachten im Auftrag der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft (INSM), Institut der deutschen Wirtschaft, 2021

Beschäftigungseffekte von Mindestlöhnen: Die Dosis macht das Gift
ifo Schnelldienst 2/2019

Branchenspezifische Mindestlöhne in Deutschland
Statistisches Bundesamt, abgerufen im Februar 2022

Tarifautonomie und Tarifgeltung
Gesamtmetall (Hrsg.), 2021

Wie die Bundesregierung die Mindestlohnkommission brüskiert
Institut der deutschen Wirtschaft, 2022

WSI­-Mindestlohnbericht​​​​​​​
Hans-Böckler-Stiftung, 2022