Regierungspolitik im Deutschland-Check
Deutschland-Check Juli 2011

Fachkräftesicherung und gesetzliche Krankenversicherung

Im Deutschland Check Juli von INSM und WiWo bewerten die Wissenschaftler des Instituts der deutschen Wirtschaft Köln das Maßnahmenkonzept der Bundesregierung zur Fachkräftesicherung, einen Referentenentwurf zur Stärkung kommunalen Finanzkraft und der Gesetzentwurf zur Verbesserung der Versorgungsstrukturen in der gesetzlichen Krankenversicherung.

23. Juli 2011

Wirtschaftsentwicklung: Optimismus bleibt vorherrschend

Die gute konjunkturelle Entwicklung spiegelt sich auch im Arbeitsmarktindex und im Wachstumsindex nieder. Beide Indizes tendierten im Juni 2011 nach oben.

Beide Teilindikatoren trugen im Juni zum Anstieg des Arbeitsmarktindex bei:

  • Saisonbereinigt reduzierte sich die Zahl der Arbeitslosen weiter auf 2,967 Millionen Personen. Das waren 8.000 weniger als im Vormonat. Damit fiel der Rückgang der registrierten Arbeitslosigkeit genauso stark aus wie im Mai.
  • Ein ganz ähnliches Bild zeigt sich auch bei offenen Stellen. Die Unternehmen meldeten der Arbeitsverwaltung im Juni 462.000 zu besetzende Stellen. Das war - wie schon im Vormonat – ein Plus von 2.000 Stellen.
  • Insgesamt erhöhte sich der Arbeitsmarktindex im Juni um 0,4 Prozent. Der Anstieg verläuft somit nicht mehr so dynamisch wie lange Zeit in diesem Jahr. Allerdings darf man dabei nicht übersehen, dass es bei weiter sinkender Arbeitslosigkeit immer schwieriger wird, Rückgänge zu erzielen. Der zunehmende Engpass bei Fachkräften hat natürlich eine Bremswirkung auf den Arbeitsmarkt insgesamt. Denn können wichtige Schlüsselfunktionen im Betrieb nicht oder nur sehr verzögert besetzt werden, dann fehlen auch Job-Gelegenheiten für geringer qualifizierte Mitarbeiter.
  • Der Arbeitsmarktindex bleibt damit im Juni im Vollbeschäftigungskorridor, nimmt allerdings Kurs auf den unteren Rand. Der Arbeitsmarkt ist somit kein Selbstläufer, die Vollbeschäftigung stellt sich nicht von alleine ein. Es gilt, weiterhin die Rahmenbedingungen für mehr Beschäftigung am Standort Deutschland zu verbessern.

Der Wachstumsindex hatte wie erwartet im Mai in der Tat nur eine Verschnaufpause eingelegt. Nach Positionsverlusten im Mai zeigte sich der Wachstumsindex im Juni erholt Zwei der drei Teilindizes drehten ins Plus und sorgten für einen Anstieg des Index:

  • Der DAX-Performance-Index setzte seine Achterbahnfahrt fort und stieg im Verlaufe des Juni um 1,1 Prozent auf 7.376 Punkte. Der starke Einbruch im Vormonat konnte damit zwar nicht kompensiert werden, allerdings lieferte der Index einen deutlich positiven Beitrag zum Anstieg des Wachstumsindex.
  • Der Ifo-Lage-Index war auch im Juni wieder für eine positive Überraschung gut. Die Unternehmen der gewerblichen Wirtschaft meldeten im Juni im Vergleich zum Vormonat eine nochmals verbesserte wirtschaftliche Lage. Angesichts des bereits sehr hohen Niveaus des Lage-Index und der Tatsache, dass die Erwartungen für die nächsten sechs Monate bereits seit Februar dieses Jahres den Rückwärtsgang eingelegt haben, war mit einem weiteren kräftigen Anstieg der Einschätzung der aktuellen Lage nicht unbedingt zu rechnen. Der obere Wendepunkt dürfte allerdings bald erreicht sein.
  • Die Industrieproduktion stieg im Mai saisonbereinigt um 1,2 Prozent an. Die größten Impulse kamen dabei aus dem Industriegüterbereich, der um 2,5 Prozent gegenüber dem Vormonat expandierte. Auch die Vorleistungsgüterproduzenten konnten ihre Produktion im Mai um 0,7 Prozent erhöhen, während der Konsumgüterbereich auf dem Vormonatsniveau verharrte. Das Prognosemodell des IW Köln signalisiert für den Juni ein leichtes Minus bei der Industrieproduktion, so dass dieser Indikator den Aufwärtstrend des Wachstumsindex in diesem Monat etwas bremst.
  • Insgesamt können wir für den Monat Juni einen Anstieg des Wachstumsindex von 0,8 Prozent feststellen. Damit gelingt es nicht ganz, den Rückgang im Mai von -1,1 Prozent auszugleichen.

Was ist geplant?
Die Bundesregierung hat in Reaktion auf die bereits vorhandenen und sich künftig weiter abzeichnenden Fachkräfteengpässe ein Konzept zur Fachkräftesicherung erarbeitet. Im Rahmen dieses Konzeptes werden Maßnahmen und Aktivitäten in fünf unterschiedlichen Bereichen angekündigt, von denen die ersten drei Bereiche unmittelbar auf eine Erhöhung der Erwerbsbeteiligung in Deutschland und die letzten zwei auf eine Erhöhung des Qualifikationsniveaus der Erwerbsbevölkerung abzielen.

1) Aktivierung und Beschäftigungssicherung
Hier wird erstens die Beschäftigungssicherung Älterer zum Ziel erklärt. Konkrete neue Maßnahmen werden nicht angeführt. Stattdessen werden allgemeine Unterziele wie die Integration Älterer in den Arbeitsmarkt und die Erhaltung deren Arbeitsfähigkeit mit einzelnen hierzu bereits in der Vergangenheit realisierten Maßnahmen aufgeführt. Zweitens sollen Arbeitslose aktiviert und integriert werden. Auch für dieses Ziel werden lediglich bereits in der Vergangenheit eingeführte arbeitsmarktpolitische Instrumente wie etwa SGBIII und SGBII als „neu ausgerichtete“ Maßnahmen deklariert. Einzig neu eingeführt werden gleichstellungspolitische Beauftragte in den Jobcentern.

2) Bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf
Es werden künftig – wie bereits seit langem geplant – Netzwerke zur Unterstützung Alleinerziehender gefördert. Weitere aufgeführte Maßnahmen wie etwa das Kinderförderungsgesetz, die Einführung des Elterngelds oder die Erhöhung der Ganztagsschulangebote durch das Investitionsprogramm „Zukunft durch Bildung und Betreuung“ wurden gleichfalls bereits in der Vergangenheit beschlossen und/oder realisiert.

3) Integration und qualifizierte Zuwanderung
Sollen offene Stellen mit Bewerbern aus Drittstaaten besetzt werden, so entfällt künftig für die meisten Ingenieurberufe sowie Ärzten die sogenannte Vorrangprüfung. Bei Personen dieser Qualifikationsgruppen müssen Arbeitgeber nun nicht mehr der Bundesagentur für Arbeit beweisen, dass kein (arbeitsloser) Bewerber aus einem Staat der EU-27 gefunden werden kann, der diese Stelle – zumindest theoretisch – qualifikationsadäquat besetzen könnte. Der Wegfall der Vorrangprüfung erfolgt zeitlich befristet. Zu einem nicht konkretisierten Termin soll die Option einer Wiedereinführung geprüft werden.

4) Bildungschancen für alle von Anfang an
Auch in diesem Bereich werden keine neuen Maßnahmen vorgestellt. Der als Maßnahme deklarierte Ausbau der Kinderbetreuungsangebote für unter Dreijährige wirkt zwar noch bis mindestens 2013, wurde jedoch ebenfalls bereits lange vor dem aktuellen Fachkräftesicherungskonzept eingeführt. Der Rechtsanspruch auf Förderung der Vorbereitung auf den nachträglichen Erwerb des Hauptschulabschlusses besteht bereits seit 2009. Und auch das als Maßnahme zitierte Bildungspaket im Bereich des SGBII kann nicht als Ergebnis des aktuellen Fachkräftegipfels gewertet werden.

5) Qualifizierung durch Aus- und Weiterbildung
Auch für die in dieser Rubrik im Fachkräftesicherungskonzept aufgelisteten Maßnahmen gilt, dass die bereits vorher erfolgte Einführung oder Verlängerung von bereits laufenden Projekten und Förderprogrammen (Beispiele: „Passgenaue Vermittlung“ für kleine und mittelständische Unternehmen, Ausbildungspakt, Deutschland-Stipendium) nicht als originäres Resultat des aktuellen Fachkräftegipfels gewertet werden kann.
Eine Priorisierung der im Fachkräftesicherungskonzept zusammengefassten Maßnahmen erfolgt nicht, ebenso wenig eine quantitative Abschätzung der mit den einzelnen Maßnahmen verbundenen Wirkungen für das arbeitsmarktrelevante Fachkräfteangebot.

Bewertung durch das IW Köln: 1 von 5 Sternen

Begründung:
Die Bundesregierung verkauft mit ihrem Fachkräftesicherungskonzept de facto alten Wein in neuen Schläuchen. Nahezu sämtliche aufgeführten Maßnahmen wie etwa im Bereich der Verbesserung der Vereinbarkeit von Beruf und Familie oder der Aktivierung und Beschäftigungssicherung wurden bereits deutlich vor dem Meseberger Fachkräftegipfel beschlossen und/oder eingeführt. An dieser Stelle soll betont werden, dass diese Maßnahmenbündel und Instrumente überwiegend sehr sinnvoll und wünschenswert sind, bewertungsrelevant kann an dieser Stelle jedoch ausschließlich deren Neuheitsgrad sein. Mit dem Wegfall der Vorrangprüfung für die meisten Ingenieurberufe sowie Ärzten fällt die einzig nennenswerte Innovation des Fachkräftesicherungskonzepts unter den Punkt Zuwanderung und Integration. Die Tatsache, dass der als arbeitsmarktpolitische Entbürokratisierungsmaßnahme zu interpretierende Wegfall der Vorrangprüfung jedoch zeitlich befristet wurde, signalisiert ein weiterhin fehlendes Problembewusstsein der Bundesregierung in den Bereichen Zuwanderung und Integration. Eben auf diesem Gebiet wurden auch weitere große Chancen vertan:

  • Trotz aller Notwendigkeit der Einführung eines qualifikationsorientierten Zuwanderungskonzepts sucht man ein solches in dem aktuellen Fachkräftesicherungskonzept der Bundesregierung vergeblich. Bereits durch die künstlich verzögerte Einführung der Freizügigkeit für Bewerber aus den neuen EU-Staaten hatte Deutschland die Potenziale qualifizierter Zuwanderung an Staaten wie Großbritannien, Schweden und Irland verschenkt. Diese arbeitsmarktpolitische Abwehrhaltung findet mit dem Festhalten an einer nicht mehr zeitgemäßen und für den Wirtschaftsstandort Deutschland nachteiligen Zuwanderungsgesetzgebung ihre Fortsetzung. Dabei liegen praktikable Konzepte für eine qualifikationsorientierte Zuwanderungspolitik – etwa jenes des Sachverständigenrats Migration und Integration – längst auf dem Tisch.
  • Die Mindestverdienstgrenze in Höhe von 66.000 Euro Bruttojahreseinkommen pro Jahr für Bewerber aus Drittstaaten wurde nicht gesenkt. Diese Schranke wirkt nicht nur, jedoch insbesondere für Berufsanfänger schlichtweg wie ein Prohibitivpreis in Bezug auf Wanderungsentscheidungen.
  • Es fehlen nach wie vor taugliche Regelungen, um den Zugang zum hiesigen Arbeitsmarkt für an deutschen Universitäten und Hochschulen ausgebildete Bildungsausländer zu erleichtern. Insbesondere in den bereits heute durch akute Fachkräfteengpässe gekennzeichneten Ingenieurwissenschaften werden in der Folge weiterhin bis zu 20 Prozent der hiesigen Absolventen die dringend benötigte Integration in den deutschen Arbeitsmarkt verwehrt. Beispielhaft werden Bildungsausländer aus Drittstaaten, die mit einem Stipendium zum Studium nach Deutschland kommen, unmittelbar nach dessen Ablauf ausgewiesen, ohne dass die Möglichkeit einer Integration in den hiesigen Arbeitsmarkt überprüft würde.
  • Die Ausschöpfung des Arbeitsmarktpotenzials von Frauen in der Breite des Arbeitsmarktes ist ein sehr sinnvolles und wünschenswertes Ziel. Die zugehörigen Maßnahmen dürften jedoch eher mittel- bis langfristig wirken. Selbst wenn es gelänge, eine kurzfristige Wirkung zu erzielen, so wäre diese im Bereich der aktuell von Engpässen gekennzeichneten Qualifikationen quantitativ eher gering. Weibliche MINT-Akademiker (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften, Technik) finden sich nur selten – in der Elektrotechnik liegt die Frauenquote bei lediglich rund 10 Prozent. Auch erfolgt Teilzeiterwerbstätigkeit bei MINT-Akademikerinnen nur sehr selten und deutlich seltener als bei anderen weiblichen Erwerbstätigen unfreiwillig.
  • Die Qualifizierung der jetzt noch vorhandenen arbeitslosen Personen ist wichtig, zur Behebung der aktuellen Fachkräfteengpässe jedoch nicht unmittelbar zielführend. Letztere manifestieren sich mehrheitlich im Bereich akademischer und/oder technisch-naturwissenschaftlicher Qualifikationen. Im Pool der Arbeitslosen finden sich derartige Qualifikationen oder Personen, die in überschaubarer Zeit entsprechend weitergebildet respektive umgeschult werden könnten, bestenfalls noch in Ausnahmefällen. Und trotz einer hohen Berufsflexibilität können arbeitslose Geistes-, Sozial-, Kultur-, Sprach- oder Rechtswissenschaftler realistischer Weise nicht zu MINT-Akademikern qualifiziert werden. Das von der Bundesregierung indirekt geforderte Schließen der aktuellen Fachkräftelücken aus dem Potenzial der heimischen Arbeitslosen scheitert somit in erster Linie an qualifikatorischen Aspekten. Beispielhaft dafür, dass neben den Qualifikationen schlichtweg die Köpfe fehlen, versucht die Bundesagentur für Arbeit inzwischen, arbeitslose Ingenieure aus dem europäischen Ausland – etwa Spanien – zu rekrutieren. 

Was ist geplant?
Die Bundesregierung hat in 2010 eine Gemeindefinanzkommission eingesetzt, deren Aufgabe es war, Lösungsvorschläge für eine Verbesserung des kommunalen Finanzsystems zu erarbeiten. Während in der Frage der Reform der Gewerbesteuer sich die Kommunalvertreter in dem im Juni vorgelegten Abschlussbericht durchsetzen konnten und allen Reformvorschlägen zu einer Ablösung dieser mehr als 200 Jahre alten Steuer eine Absage erteilten, wurden die Reformvorschläge zu einer Entlastung der Kommunen von den Kosten der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung von der Bundesregierung positiv bewertet und in einen Referentenentwurf „eines Gesetzes zur Stärkung der Finanzkraft der Kommunen“ eingearbeitet. Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf soll die kommunale Lage dadurch verbessert werden, dass der Bund beginnend im Jahr 2012 schrittweise die bisher von den Kommunen zu tragenden Kosten der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung übernimmt. Ab dem Jahr 2014 trägt er sie ganz. Dies entlastet die Kommunen im Jahr 2012 um 1,2 Mrd. Euro. Die Entlastung steigt 2013 auf 2,7 Mrd. Euro, in 2014 auf 4,1 Mrd. Euro und erreicht im Jahr 2015 4,4 Mrd. Euro. Der Gesetzentwurf sieht jedoch eine komplette Gegenfinanzierung durch Kürzungen von Zuschüssen des Bundes an die Bundesagentur für Arbeit für die Kosten der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung vor, so dass es für den Bund zu keinen Nettobelastungen kommt. Die Absenkung der Zuschüsse des Bundes an die BA wird auf den Wert eines halben Mehrwertsteuerpunktes begrenzt.

Bewertung durch das IW Köln: 0 von 5 Sternen

Begründung:

  • Der vorliegende Gesetzentwurf ist kritisch zu bewerten. Die Reform führt nicht zu einer nachhaltigen systemgerechten Verbesserung der Finanzausstattung der Kommunen und belastet dauerhaft die Finanzausstattung der Bundesagentur für Arbeit. Statt einer durchgreifenden Reform bleibt es bei einem „Verschiebebahnhof‘“.
  • Statt endlich die Chance zu nutzen, die kommunale Finanzausstattung über einen Ersatz der mit vielen Mängeln behafteten Gewerbesteuer durch eine Beteiligung der Kommunen an der konjunkturunempfindlicheren Umsatz- und Einkommensteuer nachhaltig zu verbessern, wurde abermals die längst überfällige Reform der Gewerbesteuer nicht genutzt und vom Finanzminister gänzlich von der Reformagenda für den Rest dieser noch verbleibenden Legislaturperiode genommen. Bekanntlich hatte die Bundesregierung einen eigenen Gewerbesteuerreformvorschlag unterbreitet, der jedoch mit vordergründigen Argumenten von den Kommunalvertretern in der Gemeindefinanzkommission abgelehnt wurde. Die allseits bekannten Mängel der Gewerbesteuer, unter anderem ihre hohe Schwankungsanfälligkeit im Konjunkturverlauf, wurden so zementiert. Zwar sorgt die gute konjunkturelle Entwicklung aktuell für kräftig steigende Einnahmen aus der Gewerbesteuer, aber bei der nächsten konjunkturellen Abkühlung werden die bekannten Probleme wieder auftreten und den Konsolidierungsprozess auf kommunaler Ebene erschweren.
  • Durch die Kürzung der Bundesbeteiligung an den Kosten für die Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung verlässt die Bundesregierung den seit 2007 erfolgreich beschrittenen Weg, über eine Reduzierung der Beitragssätze in der Arbeitslosenlosenversicherung von 6,5 Prozent in 2006 auf zuletzt 3 Prozent zu einer spürbaren Verringerung der staatlich induzierten Arbeitskostenbelastung zu gelangen, um damit positive Beschäftigungsimpulse zu geben. Mit der Kürzung der Kostenbeteiligung riskiert die Bundesregierung vielmehr zukünftig steigende Beitragssätze. Zwar sollen diese Mindereinnahmen ab 2016 auf den Aufkommenswert eines halben Mehrwertsteuerpunktes gedeckelt werden, gleich wohl ist dann allein schon aus der Tatsache, dass das Mehrwertsteueraufkommen in Zukunft weiter steigen wird, damit zu rechnen, dass der Mittelentzug gleichwohl ab 2016 sogar noch höher ausfallen wird als in den Jahren zuvor.
  • Zudem ist es auch allokationspolitisch verfehlt, die Kommunalhaushalte für die Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung aus der Verantwortung zu nehmen, denn hierdurch fallen nicht nur Verwaltungszuständigkeit und Finanzierungsverantwortung entsprechend dem Vorhaben des Gesetzentwurfs auseinander, sondern es entfällt für die Kommunen damit auch zugleich der Anreiz, die Höhe dieser Ausgaben zu begrenzen.
  • Insgesamt überzeugt der Gesetzentwurf damit nicht , weil er allenfalls geeignet ist, die Kommunen bei den Sozialaufwendungen partiell zu entlasten, aber dafür im Gegenzug über den “Verschiebebahnhof“ BA die Finanzausstattung der Bundesagentur schwächt und letztlich systemwidrig die beitragszahlenden Unternehmen und Arbeitnehmer für eine Verbesserung der Kommunalfinanzen in die Pflicht nimmt.

Was ist geplant?
Das Bundesministerium für Gesundheit (BMG) hat einen Referentenentwurf für ein „Gesetzes zur Verbesserung der Versorgungsstrukturen in der gesetzlichen Krankenversicherung“ (Stand 10. Juni) vorgestellt, der nach Abstimmung mit den Fachgremien des BMG noch im August als Kabinettsentwurf verabschiedet und nach der Sommerpause in den Deutschen Bundestag und Bundesrat eingebracht werden soll. Ziel ist es, bis zum Jahresende die bestehenden Regelungen insbesondere zur ambulanten Versorgung soweit anzupassen, dass eine wohnortnahe Versorgung vor allem in ländlichen Gebieten gesichert werden kann.

Das Gesetz fungiert als „Omnibus-Gesetz“ mit Änderungen zu zahlreichen Regelungstatbeständen – von einer Honorarreform für niedergelassene Ärzte über die Abschaffung einer Mengenbegrenzung für bislang außerbudgetäre Leistungen, von Anpassungen bei den Regelungen für den Gemeinsamen Bundesausschuss über Ergänzungen zur Schließung von einzelnen Krankenkassen bis hin zu Vereinfachungen bei den Umlageverfahren U1 und U2 für die Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall und bei Mutterschaft. Angesichts der Vielzahl der Einzeltatbestände werden nur zwei Punkte hervorgehoben – die neuen Möglichkeiten zu Förderung einer Ansiedlung hausärztlicher Praxen in ländlichen Regionen und die „Vereinfachung“ im Bereich der Umlageverfahren U1 und U2.

Bewertung durch das IW Köln: 1 von 5 Sternen

1) Als eines seiner zentralen Anliegen gibt der Gesetzgeber zum aktuellen Entwurf an, einer drohenden ärztlichen Unterversorgung in ländlichen Regionen entgegen wirken zu wollen. Dies soll aufwandsneutral erfolgen. Ohne das Honorar der in Ballungszentren praktizierenden Ärzte kürzen zu wollen, sollen „Landärzte“ zukünftig einen Honoraraufschlag für vergleichbare Leistungen erhalten. Dies wird unter anderem damit begründet, dass Hausbesuche auf dem Land längere Fahrtzeiten beanspruchen, die in den derzeitigen Strukturen nicht adäquat abgebildet werden. Außerdem führe die Abwanderung vor allem junger Menschen zu einer besonderen demographischen Entwicklung, die den „Landärzten“ häufig ressourcenintensivere Behandlungen abverlangt. Deshalb sollen in solchen Regionen sonst bindenden Richtgrößen für die Arzneimittelverordnung gelockert werden, so dass bei Überschreiten dieser Grenzwerte der „Landarzt“ nicht mit finanziellen Restriktionen rechnen muss.

Aus diesen Regelungen lässt sich zunächst nicht erkennen, wie der Gesetzgeber Aufwandsneutralität garantieren kann. Im Gegenteil: Gleichzeitig sollen für alle ambulant praktizierenden Ärzte die erst vor einem Jahr eingeführten Mengenbeschränkungen für jene Kassenleistungen aufgehoben werden, die bislang nicht budgetiert waren. Dies hebt eine weitere Restriktion für alle Vertragsärzte auf. Bezieht man die möglichen Folgen mit ein, die die geplante Neuregelung zur Messung des Therapiebedarfs nach sich ziehen können, dann rechnet der Spitzenverband der Gesetzlichen Krankenversicherung mit Mehrbelastungen von bis zu 4 Mrd. Euro jährlich.

Grundsätzlich ließe sich zwar argumentieren, dass jede einzelne Maßnahme eher zu einer Aufweichung bestehender Regulierungen führt (z. B. die Aufhebung von Mengenbeschränkungen bei außerbudgetären Leistungen). Insgesamt handelt es sich aber keineswegs um eine Liberalisierung der Versorgungsmärkte, sondern allenfalls um marginale Korrekturen bestehender Eingriffe. Die ökonomische Diagnose einer Über- und Fehlregulierung bleibt also bestehen und somit lässt sich aufgrund der Vielzahl interdependenter Regulierungen auch kaum hervorsagen, welche Anpassungsreaktionen die Vielzahl der jetzt vorgeschlagenen Maßnahmen nach sich ziehen werden. Insbesondere bleibt zu hinterfragen, ob die Eingriffe tatsächlich helfen können, die Ansiedlung von Landärzten zu befördern.

Dabei ist bereits die Zielsetzung in Frage zu stellen, auf Kosten der beitragsfinanzierten gesetzlichen Krankenversicherungen vermeintliche Defizite in der ländlichen Versorgung auszugleichen. Denn die im Vergleich zu städtischen Regionen ungünstigeren Versorgungskennziffern (nicht nur im medizinischen Bereich) sind im ökonomischen Sinne auch als Preis für andere monetäre und nicht-monetäre Vorteile ländlicher Ansiedlung zu interpretieren. Wenn die medizinische Versorgung in dünner besiedelten Regionen also überhaupt eine Aufgabe der Politik sein soll, dann ist sie an die Kommunen zu adressieren und aus kommunalen Mitteln oder über die Länderhaushalte zu finanzieren. Keinesfalls aber liegt diese grundsätzlich standortpolitische Frage in der Verantwortung der gesetzlichen Krankenversicherung und damit der Beitragszahler. Im Gegenteil entstehen so unkontrollierbare und unerwünschte Verteilungseffekte. Denn auf der einen Seite müssten dann bei gleichen Verdiensten Versicherte in Ballungszentren mit ihrem Beitrag die Ansiedlung von Landärzten zu Gunsten der Versorgung ländlicher Regionen subventionieren – eine nicht zu rechtfertigende Umverteilung innerhalb der Sozialversicherung. Und auf der anderen Seite profitierten von einer solchen Umverteilung auch jene Berufsgruppen in ländlichen Gebieten, die als Selbständige oder Beamte außerhalb des gesetzlichen Systems abgesichert sind.

Unter dem Strich ist nicht nur die vermeintliche Budgetneutralität in Frage zu stellen, insbesondere aus ordnungspolitischer Sicht bringt das Gesetz keinerlei Fortschritt.

2) Der umfassende Entwurf sieht außerdem vor, dass ab dem Jahr 2013 die Umlageverfahren U1 und U2 über eine zentrale Ausgleichskasse abgewickelt werden. Bislang sind Arbeitgeber mit bis zu 30 Arbeitnehmern verpflichtet (andere können freiwillig teilnehmen), über eine Umlage die Risiken, sprich die zu erwartenden Aufwendungen im Rahmen der gesetzlichen Entgeltfortzahlungsverpflichtung bei Krankheit und Mutterschaft, abzusichern. Im Gegenzug wird den teilnehmenden Unternehmen ein Prozentsatz der ihnen entstanden Aufwendungen ersetzt.

Bei dieser Umlage entsteht das Problem, dass der Unternehmer auf die vom Mitarbeiter gewählte Krankenkasse festgelegt ist. Diese organisieren individuell oder im Rahmen ihrer Kassenart die Umlage. Es besteht also keine einheitliche Umlage sondern konkurrierende Umlageverfahren, auf deren Wahl der Arbeitgeber keinen Einfluss hat. Im Extremfall meldet ein Arbeitgeber seine 30 Mitarbeiter also nicht nur bei bis zu 30 unterschiedlichen Kassen an, sondern er nimmt auch an unterschiedlichen Umlagesystemen teil. Die können sich sowohl in ihrem Beitrag als auch in der Erstattungsquote im Schadensfall deutlich unterscheiden.
Allein die Administration des U1-Verfahrens kostet nach Schätzungen des IW Köln jährlich knapp 600 Mio. Euro – bei einem Erstattungsvolumen von 2,3 Mrd. Euro (2009). Eine Vereinheitlichung des Verfahrens ist hier sicherlich sinnvoll, auch wenn damit nur ein Teil dieser Summe eingespart werden kann. Zudem plant der Gesetzgeber den Beitragseinzug weiterhin über die jeweiligen Kassen der Arbeitnehmer zu organisieren – hier wäre weiteres Entlastungspotenzial zu realisieren.

Auch wenn nicht alle Entlastungspotenziale im Bereich der Umlage U1 und U2 ausgeschöpft werden und die Regelungen erst ab 2013 greifen sollen, so ist zumindest hier ein Pluspunkt zu verzeichnen. Dem stehen aber gravierende fiskalische Bedenken und mehr noch ordnungspolitische Einsprüche bei den Nachjustierungen auf der Leistungsseite entgegen. Deshalb kann das Gesetz nicht überzeugen und bleibt am Ende selbst den Nachweis schuldig, tatsächlich zu einer Verbesserung der flächendeckenden Versorgung beizutragen.

Als Reaktion auf das Reaktorunglück in Fukushima und die öffentliche Forderung nach einem Ausstieg aus der Atomenergie haben Bundestag und Bundesrat im Eiltempo eine deutliche Verkürzung der Laufzeiten deutscher Kernkraftwerke beschlossen. Nur vier Monate nach dem japanischen Störfall wurde verbindlich festgelegt, dass das letzte deutsche Kernkraftwerk 2022 abgeschaltet wird.

Ende Juni/Anfang Juli 2011 haben über 65 Ökonomen – Professoren für Wirtschaftswissenschaften an deutschen Universitäten – die branchenspezifischen und volkswirtschaftlichen Auswirkungen des beschleunigten Atomausstiegs bewertet.

Lediglich jeder zehnte Befragungsteilnehmer des Deutschland-Checks erwartet, dass die Beschlüsse in den kommenden Jahren von der Politik wieder revidiert werden. Die restlichen Experten erwartet zu etwa gleichen Teilen mit hoher bzw. eher hoher Wahrscheinlichkeit, dass der jüngst gefasste Beschluss bis 2022 nicht wieder gekippt und der Atomausstieg wie beschlossen umgesetzt wird.

Wirtschaftliche Risiken aufgrund des Ausstiegsbeschlusses erwarten die befragten Experten insbesondere für die Metallerzeugung und -bearbeitung: Fast zwei Drittel der Ökonomen sieht für diese Branche eher bzw. sehr hohe wirtschaftliche Risiken. Rund die Hälfte der Befragungsteilnehmer erwartet für die chemische und kunststoffverarbeitende Industrie, die Energiewirtschaft sowie die Metall- und Elektroindustrie eher bzw. sogar sehr hohe Risiken zukommen. Nur geringe Risiken drohen nach Expertenmeinung nur den Dienstleistern und der Bauwirtschaft.

Chancen ergeben sich aus dem beschleunigten Atomausstieg nach Expertenmeinung insbesondere für die Energiewirtschaft. In allen anderen Branchen fällt das Potenzial zur Erschließung neuer Geschäftsfelder hingegen eher dürftig aus.

In kurzfristiger Perspektive erwartet die die Mehrzahl der Ökonomen nur bei den Investitionen und Innovationen eher bzw. sehr positive Auswirkungen. In den Bereichen stabile Verbraucherpreise, ausgeglichener Staatshaushalt sowie günstige Rohstoff- oder Energiepreise rechnet hingegen kein einziger Ökonom mit kurzfristig positiven Effekten durch den beschleunigten Atomausstieg.

Auf lange Sicht werden die gesamtwirtschaftlichen Auswirkungen von den Experten etwas weniger negativ bewertet. Dennoch erwartet eine Mehrheit der Experten in den meisten Bereichen auch nach erfolgten Anpassungsreaktionen der Wirtschaft negative wirtschaftliche Auswirkungen des Atomausstiegs. Dies gilt insbesondere für die Bereiche der Verbraucher- und Energiepreise.