Der öffentliche Diskurs ist in Deutschland zunehmend von der Frage geprägt, ob die Chancen und Lasten in unserer Gesellschaft gerecht verteilt sind. Vor der Bundestagswahl in diesem Herbst findet sich das Thema in vielen Vorschlägen der Parteien wieder. Die Kernfrage dabei: Sorgen die Politikvorschläge tatsächlich für mehr Gerechtigkeit?
Um diese Frage zu beantworten, hat das Rheinisch-Westfälische Institut für Wirtschaftsforschung (RWI) (komplette Studie hier) im Auftrag der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft (INSM) jene Themen aus den Bereichen Arbeitsmarkt und Bildung beleuchtet, die für Chancengerechtigkeit und Teilhabe essenziell sind und zudem von den Parteien in den Mittelpunkt ihrer Wahlprogramme gestellt werden. Lesen Sie die Analyse und Kommentierung der Parteiaussagen zu den folgenden Themen:
Die Analyse des RWI beruht auf den Politikvorschlägen und Positionen der Parteien. Diese wurden weitestgehend den Wahlprogrammen bzw. -entwürfen entnommen.
22. Mai 2013Die frühkindliche Bildung gilt unbestritten als Schlüssel zur künftigen Wissensgesellschaft und ihrer Anpassungsfähigkeit an neue Herausforderungen. Alle Parteien fordern eine Verbesserung der frühkindlichen Bildung. Ihre Vorschläge wirken sich über die kognitive und soziale Entwicklung auf die späteren Teilhabemöglichkeiten des Kindes aus. Zudem verbessert eine ausreichende Betreuungsinfrastruktur die Erwerbsmöglichkeiten der Eltern und damit die Chancengerechtigkeit.
Im März 2012 besuchten 27,6 Prozent der Kinder unter 3 Jahren Betreuungseinrichtungen oder Tagespflege. Zwei Drittel davon waren ganztägig in Betreuung. Von den Kindern zwischen 3 und 6 Jahren wurden 93,4 Prozent der Kinder außerhalb des Elternhauses betreut. Die Versorgungslücke ist groß: Zum einen ist das erklärte Ziel noch fern, bundesweit für 35 Prozent der unter Dreijährigen ein Betreuungsangebot zu schaffen. Zum anderen ist der Betreuungsbedarf weiter gestiegen.
Qualifizierung der Betreuer
Einen Hochschulabschluss haben zurzeit 4,6 Prozent des gesamten Personals in Tageseinrichtungen. 85 Prozent sind gelernte Erzieher oder haben einen anderen Berufsabschluss im Pflegebereich. Die Mehrheit der Tageseltern hat nach Angaben des Statistischen Bundesamts nur einen Qualifizierungskurs für Kindertagespflege gemacht.
Betreuungskosten und Betreuungsgeld
Die Elternbeiträge sind von Kommune zu Kommune sehr unterschiedlich. Meist richten sie sich nach dem Haushaltseinkommen und der Anzahl weiterer Kinder. Ab August 2013 gibt es für Kinder im zweiten Lebensjahr, die zu Hause betreut werden, ein Betreuungsgeld von 100 Euro monatlich. Ab dem 1. August 2014 zahlt der Staat für Kinder im zweite und dritten Lebensjahr 150 Euro.
CDU/CSU
Betreuungsgeld für Kinder, die keine frühkindliche Förderung in Tageseinrichtungen oder in Kindertagespflege in Anspruch nehmen, beibehalten
SPD
Bedarfsgerechter Ausbau der Kindertagesstätten für jährlich mindestens 2 Milliarden Euro; Gebührenfreiheit bei finanzieller Ausstattung der Kommunen; Anspruch auf Ganztagsbetreuung; Qualität der Bildungsinhalte erhöhen; individuelle Förderung einschließlich Sprachförderung verbessern; Betreuungsgeld abschaffen
GRÜNE
Finanzierung des Kita-Ausbaus entsprechend Rechtsanspruch durch den Bund; Anspruch auf ganztägige Betreuung; Unterstützung der Länder bei der Qualifizierung von Erziehern; insgesamt 1 Milliarde Euro zusätzliche Bundesmittel jährlich; bundesweite Mindestqualitätsstandards für die Betreuung (z. B. beim Betreuungsschlüssel); eine Fachkraft mit Hochschulniveau je Kita-Gruppe; Sprachförderung unter Einbeziehung der Herkunftssprache; Betreuungsgeld abschaffen
FDP
Betreuungsqualität verbessern; Ausbau hochwertiger Angebote; Aus- und Fortbildung von Erziehern verbessern, pädagogischer Fachhochschulabschluss verpflichtend für Kita-Leiter; Tageseltern besser stellen; Betreuungsgeld evaluieren
DIE LINKE
Sofortige Aufstockung der öffentlichen Bildungsausgaben; bedarfsgerechte, hochwertige und gebührenfreie Ganztagsbetreuung mit flexiblen Öffnungszeiten; Ausbildung der Erzieher auf Hochschulniveau; Betreuungsgeld abschaffen
PIRATEN
Kostenlose und auf Wunsch ganztägige Betreuung in Kitas ab dem 3. Geburtstag; Finanzierung entsprechend der Regelung für Schulen; Rechtsanspruch auf Betreuung von Geburt an
Frühkindliche Lebensumstände beeinflussen der Wissenschaft zufolge Verhalten und Dimensionen wie Lohn, Beschäftigungschancen, Gesundheit oder Lebenserwartung. Politische Vorsorge durch frühkindliche Bildung ist daher wirksamer als spätere Schadensbegrenzung.
Frühkindliche Förderung
Bei Modellprogrammen zur frühkindlichen Förderung stark benachteiligter Kinder zeigt sich eine langfristige Stärkung schulischer Leistungen und Eigenschaften wie Zielorientierung und Geduld. Kinder aus bildungsfernen oder einkommensschwachen Haushalten profitieren dabei stärker. Doch nicht allein der Ausbau frühkindlicher Bildungsangebote ist entscheidend, sondern auch deren Qualität: Die Art der Interaktion zwischen Erziehern und Kindern sowie zwischen den Kindern hat dabei auf die Entwicklung größeren Einfluss als strukturelle Parameter wie Betreuungsschlüssel und Qualifikation der Erzieher.
Betreuungsgeld
Das Betreuungsgeld wird der Arbeitsmarkttheorie zufolge dazu führen, dass die Erwerbsquote der Mütter, besonders in bildungsfernen Haushalten, sinkt. Da sie
tendenziell niedrigere Stundenlöhne erzielen, ist der Anreiz hoch, zu Hause zu bleiben und das Kind selbst zu betreuen. Gerade diese Kinder würden aber von externer Betreuung profitieren. Das Betreuungsgeld dürfte die Chancengerechtigkeit daher senken.