Chancen für alle
Arbeitsmarkt

Welche Reformen Deutschland braucht

Die Arbeitslosigkeit hat abgenommen, aber bestimmte Personengruppen sind immer noch überdurchschnittlich stark von Erwerbslosigkeit betroffen. So haben es Leistungsträger der mittleren Generation, junge Geringqualifizierte und Ältere auf dem Arbeitsmarkt besonders schwer. Im Auftrag der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft zeigt Prof. Dr. Michael Bräuninger in seiner Studie "Chancen für alle" den Status quo, analysiert die Ursachen und macht Reformvorschläge.

26. Oktober 2014

Studie herunterladenÖkonomenblog: Der Arbeitsmarkt braucht Flexibilität

1 | Kurzfassung

Die Arbeitslosigkeit ist in Deutschland in den letzten Jahren deutlich zurückgegangen. Dennoch gibt es verschiedene Gründe, sich weiterhin mit der Lage am Arbeitsmarkt zu beschäftigen. In einigen Regionen, insbesondere in Ostdeutschland und im Ruhrgebiet, herrscht noch immer erhebliche Arbeitslosigkeit. In anderen Regionen herrscht praktisch Vollbeschäftigung, und hier bremst die Verfügbarkeit von qualifizierten Beschäftigten das Wachstum und die Beschäftigung von geringer Qualifizierten. Um diesen Problemen zu begegnen, müssen die institutionellen Bedingungen am Arbeitsmarkt weiter verbessert werden. Dabei sind drei Arbeitsmarktsegmente zu unterscheiden:

  1. Im Bereich der qualifizierten Leistungserbringer, die sich insbesondere in der mittleren Generation befinden, müssen die Erwerbsquoten steigen. Ein erhebliches Potenzial bieten hier Frauen, deren Erwerbsquote in den letzten Jahren zwar deutlich gestiegen ist, aber noch immer deutlich unter der von Männern liegt. Damit dies möglich wird, muss die Vereinbarkeit von Familie und Beruf weiter verbessert werden. Dazu ist insbesondere eine qualitativ bessere Kinderbetreuung notwendig. Außerdem müssen auch die Anreize zur Arbeitsaufnahme verbessert werden. Eine Reform des Ehegattensplittings, bei dem das Splitting erst im Jahreslohnsteuerausgleich durchgeführt wird, könnte hier hilfreich sein. Eine Einschränkung der Möglichkeiten für Minijobs ohne gleichzeitige Reform der Besteuerung von sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnissen könnte aber konterproduktiv sein, sodass einige Frauen, die derzeit im Rahmen von Minijobs beschäftigt sind, dann gar nicht mehr einer Beschäftigung nachgehen würden.
  2. Im Bereich der Geringqualifizierten sind die Arbeitslosenquoten noch immer hoch. Zwar ist auch hier die Arbeitslosenquote gefallen, aber in einem geringeren Ausmaß als die allgemeine Arbeitslosenquote. Außerdem ist noch immer ein hoher Anteil der Geringqualifizierten langzeitarbeitslos. Insgesamt gibt es für diese Problemgruppe trotz positiver Entwicklungen weiteren Verbesserungsbedarf. Die bisherigen Beschäftigungserfolge sind wesentlich auf Zuwächse in wenig regulierten Arbeitsmarktbereichen, wie der Zeitarbeit und den befristeten Beschäftigungsverhältnissen, zurückzuführen. Diese haben auch dazu geführt, dass die Langzeitarbeitslosigkeit zeitweise stärker zurückgegangen ist als die Arbeitslosigkeit insgesamt. Einschränkungen bei der Flexibilität dieser Beschäftigungsverhältnisse sind insofern abzulehnen.
  3. Vor dem Hintergrund der demografischen Entwicklung ist die Beschäftigung der Älteren von besonderer Bedeutung. Die Altersgruppe der über 55 und die der über 60 Jahre alten Menschen haben bereits zugenommen und werden dies in den nächsten Jahren weiter tun. In den letzten Jahren haben sich die Erwerbsquoten der Älteren deutlich verbessert, doch noch immer liegt das effektive Eintrittsalter in den Ruhestand in Deutschland früher als in den meisten anderen Industrieländern. Insofern sind auch hier weitere Verbesserungen möglich.

2 | Einleitung

Obwohl die Arbeitslosigkeit in Deutschland in den letzten Jahren deutlich zurückgegangen ist, bestehen weiterhin verschiedene Arbeitsmarktprobleme: Einerseits sind bestimmte Personengruppen und bestimmte Regionen weiterhin stark von Arbeitslosigkeit betroffen. Andererseits herrscht in einigen Regionen Vollbeschäftigung, und hier wird insbesondere qualifizierte Arbeit zu einem Faktor, der das Wachstum und die Beschäftigung von anderen Personengruppen begrenzt.

Die regionalen Differenzen werden bei einem Vergleich der durchschnittlichen Arbeitslosigkeit in den 402 Kreisen und kreisfreien Städten deutlich. Im Jahr 2013 lag die Arbeitslosenquote in 35 Kreisen, insbesondere in Bayern und Baden-Württemberg, bei 3 %, sodass hier von Vollbeschäftigung ausgegangen werden kann. Dagegen hatten 60 Kreise, insbesondere in Ostdeutschland, aber auch im Ruhrgebiet, Arbeitslosenquoten von über 10 %, sodass Arbeitslosigkeit hier noch ein erhebliches Problem darstellt. Insgesamt war in 244 Kreisen mit Arbeitslosenquoten von über 5 % die Vollbeschäftigung noch nicht erreicht.

Die Arbeitsmarktprobleme unterscheiden sich nicht nur zwischen den verschiedenen Regionen, sondern auch für verschiedene Personengruppen am Arbeitsmarkt. Deshalb ist es notwendig, eine nach Arbeitsmarktsegmenten differenzierte Analyse vorzunehmen. Zu betrachten sind dabei die folgenden Gruppen:

  • Leistungsträger, insbesondere in der mittleren Generation
  • Geringqualifizierte, insbesondere in der jüngeren Generation
  • Erwerbstätige im Alter
Studie Prof. Bräuninger Grafik 1 Abbildung 1

Bei den Leistungsträgern ergibt sich tendenziell die beste Beschäftigungssituation, sodass bereits ein Mangel an diesen Arbeitskräften herrscht, der sich zukünftig aufgrund der demografischen Entwicklung weiter verschärfen wird. Deshalb stellt sich hier die Frage, wie die Arbeitsmarktpartizipation erhöht werden kann. Im Bereich der Geringqualifizierten ist die Arbeitslosigkeit noch besonders hoch. Deshalb ist für diese Gruppe zu untersuchen, welche Einstiegs- und Qualifikationsmöglichkeiten helfen können, die Arbeitslosigkeit abzubauen. Für die Älteren war es lange möglich, in den Vorruhestand zu wechseln, sodass die Arbeitslosenquoten, aber auch die Erwerbsquote gering waren. Da der demografische Wandel eine Erhöhung der Erwerbsquote von Älteren erforderlich macht, wurden die Möglichkeiten zum Vorruhestand weitgehend gestrichen, das Renteneintrittsalter wird schrittweise auf 67 Jahre angehoben. Zu untersuchen ist dann, ob und unter welchen Bedingungen dieses auch dazu führt, dass die Älteren tatsächlich am Arbeitsmarkt partizipieren.

Die drei Kapitel dieser Studie beschäftigen sich jeweils mit einer der genannten Personengruppen und deren Möglichkeiten und Chancen am Arbeitsmarkt. In diesen Zusammenhang sind Möglichkeiten von Teilzeitarbeit, Minijobs und befristete Beschäftigungsverhältnisse einzuordnen. In jedem Kapitel wird zunächst eine Bestandsaufnahme durchgeführt, in der die Entwicklung des Arbeitsmarkts für die jeweilige Gruppe in den letzten Jahren dargestellt wird. Im Anschluss wird eine Analyse der Ursachen für die jeweiligen Entwicklungen vorgenommen, um abschließend Reformoptionen zu diskutieren.

Teaser Langzeitarbeitslose

3 | Die Leistungsträger, insbesondere in der mittleren Generation

 

3.1 | Bestandsaufnahme

Abbildung 2 zeigt die Entwicklung des Arbeitsangebots und der Erwerbstätigkeit seit 1991. Die Zahl der Erwerbspersonen hat über diesen Zeitraum fast kontinuierlich zugenommen. In den 1990er und Anfang der 2000er Jahren hat dies nicht zu einem parallelen Anstieg der Erwerbstätigkeit geführt. Ein großer Teil der zusätzlichen Erwerbspersonen wurde erwerbslos. Erst Mitte der 2000er Jahre ist es nach umfangreichen Arbeitsmarktreformen gelungen, den Trend umzukehren. Die Erwerbstätigkeit hat seitdem deutlich zugenommen und lag im Jahr 2013 um 2,6 Mio. Personen über der im Jahr 2004. Gleichzeitig ist die Zahl der Erwerbspersonen um 800.000 gestiegen, sodass die Zahl der Erwerbslosen um 1,8 Mio. abgenommen hat.

Studie Prof. Bräuninger Grafik 2 Abbildung 2

Die Zunahme der Erwerbstätigkeit findet sich sowohl bei Männern als auch bei Frauen. Allerdings hat die Erwerbtätigkeit von Frauen sehr viel stärker zugenommen als die von Männern. Die Erwerbsquote von Frauen ist zwischen 2004 und 2013 um 7,4 Prozentpunkte auf 72,5 % angestiegen. Bei Männern nahm sie nur um 3,4 Prozentpunkte zu. Dennoch lag auch 2013 die Erwerbsquote von Männern mit 82,4 % etwa zehn Prozentpunkte höher als bei Frauen.

Der größte Teil der Erwerbstätigen ist sozialversicherungspflichtig beschäftigt. In dieser Gruppe der Erwerbstätigen fand auch der größte Beschäftigungsanstieg statt. So ist die Zahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten zwischen Dezember 2003 und 2013 um 2,75 Mio. auf 29,5 Mio. gestiegen. Der mit 57 % größte Teil dieses Beschäftigungszuwachses geht auf die weiblichen Beschäftigten zurück. Ihre Zahl hat in diesem Zeitraum um 1,56 Mio. zugenommen (+12,8 %). Die Zahl der männlichen sozialversicherungspflichtig Beschäftigten ist um 1,19 Mio. bzw. 8,1 % gestiegen und damit deutlich weniger gewachsen als die der Frauen. Im Dezember 2013 waren 7,50 Mio. der 13,7 Mio. sozialversicherungspflichtig beschäftigten Frauen in Vollzeit beschäftigt. Der Teilzeitanteil belief sich somit auf 45 %. Bei Männern lag der Teilzeitanteil hingegen unter 10 %.

Die Trendwende am Arbeitsmarkt war auch das Resultat von umfangreichen Arbeitsmarktreformen, die durch die Hartz-Gesetze in den Jahren 2003 (Hartz I und II), 2004 (Hartz III) und 2005 (Hartz IV) implementiert wurden. Im Rahmen dieser Reformen kam es auch zu einer Liberalisierung der Beschäftigungsmöglichkeiten im Bereich der geringfügig entlohnten Beschäftigten (Minijobber). In Folge dieser Änderungen stieg die Zahl der Minijobber von 6 Mio. im Dezember 2003 um 26 % auf 7,5 Mio. gegen Ende des Jahres 2013. Dabei wurden über 60 % der Minijobs von Frauen wahrgenommen. Deutliche Verschiebungen haben sich zwischen den ausschließlich geringfügigen Beschäftigungen und den Minijobs als Zweitjob ergeben. So gehen über 80 % des Zuwachses der geringfügig entlohnten Beschäftigten auf eine Zunahme der Minijobs als Nebenjob zurück.

Über die nächsten Jahrzehnte wird sich ein wesentlicher Trend am Arbeitsmarkt umkehren. Die Zahl der Erwerbspersonen wird nicht mehr zu-, sondern abnehmen. Sofern die Erwerbsquote konstant bleibt, läge der Rückgang bei 4,7 Mio. Personen. Damit werden sich auch die Probleme am Arbeitsmarkt verändern. Es wird nicht mehr der Mangel an Arbeitsplätzen ein Problem sein, sondern der Mangel an Arbeitskräften.

3.2 | Ursachenanalyse

Die Trendumkehr am Arbeitsmarkt ist zu einem großen Teil auf die Reformen zu Beginn der 2000er Jahre zurückzuführen. Die umfassenden Reformen wirkten auf das Arbeitsangebot, die Arbeitsnachfrage und den Vermittlungsprozess. Mit den Reformen hat auch ein Paradigmenwechsel in der Arbeitsmarktpolitik stattgefunden: So ist der Glaube an die Funktionsfähigkeit der Marktkräfte auf dem Arbeitsmarkt zurückgekehrt.

Studie Prof. Bräuninger Grafik 3 Abbildung 3

Die Reformen haben nicht nur direkt positive Wirkungen für den Arbeitsmarkt mit sich gebracht, sondern auch den Lohnverhandlungsprozess beeinflusst, vgl. Bräuninger (2000). Die Lohnpolitik war ausgesprochen zurückhaltend, was wesentlich zur guten Entwicklung der Beschäftigung in den Jahren seit 2005 beigetragen hat. In Folge der Lohnzurückhaltung ist die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Industrie gestiegen, und die Exporte haben sowohl in die Schwellenländer als auch in die Europäische Union (EU) stark zugenommen. Zunächst hat dies zu einer steigenden Beschäftigung in den exportorientierten Industriebranchen geführt. Aufgrund der verbesserten Beschäftigung ist es dann auch bei geringen Lohnsteigerungen zu einer Erhöhung der Einkommen gekommen. Gleichzeitig konnten bei der verbesserten Beschäftigung die Sozialabgaben gesenkt werden, sodass die Nettoeinkommen gestiegen sind, vgl. Abbildung 3. Der Erholungsprozess wurde 2009 infolge der globalen Wirtschafts- und Finanzkrise unterbrochen. Der heftige Einbruch hat die deutsche Wirtschaft nur für eine relativ kurze Zeit getroffen: Die Schwellenländer haben die Krise schnell überwunden, und so konnte sich auch die deutsche Industrie nach dem kurzen und heftigen Einbruch rasch wieder erholen. Im Vergleich zu dem massiven Einbruch bei der Produktion hat es nur geringfügige Rückgänge bei der Beschäftigung gegeben, die schon bald wieder ausgeglichen wurden. Die gute Beschäftigung und die steigenden Einkommen haben dann auch den Konsum und die Binnennachfrage verbessert, sodass diese in den letzten Jahren zur Stütze der Konjunktur wurden.

Studie Prof. Bräuninger Grafik 4 Abbildung 4

Abbildung 4 zeigt die Steigerungsrate der Bruttolöhne und der Preise. Deutlich wird zum einen die lange Phase der Lohnzurückhaltung, zum anderen aber auch, dass es in den letzten Jahren bei der verbesserten Arbeitsmarktlage wieder zu stärkeren Lohnsteigerungen gekommen ist. Letztlich zeigt dies die Funktionsfähigkeit des Arbeitsmarkts.

Zuletzt lagen die Lohnsteigerungen deutlich über der Inflationsrate, die sich auf einem historisch niedrigen Niveau befindet. Wesentlich für die niedrige Inflationsrate sind die geringen Importpreise. Für diese gibt es drei Gründe:

  1. die sinkenden Preise für Energieimporte,
  2. den starken Euro und die damit einhergehenden geringen Importpreise,
  3. die niedrigen Preise für Importgüter aus der Eurozone.

Insgesamt eröffnet die niedrige Inflationsrate Spielräume für Reallohnerhöhungen, die zum Teil die Reallohnrückgänge aufgrund steigender Energiepreise in den Jahren 2005 bis 2008 kompensieren. Bei den steigenden Löhnen ist die Gefahr einer Abwärtsspirale, die zu einer Deflation führt, nicht zu erkennen. Vor diesem Hintergrund ist die Forderung nach höheren Lohnsteigerungen von Europäischer Zentralbank (EZB) und Bundesbank durchaus problematisch. Angesichts des ohnehin vorhandenen Trends zu Lohnsteigerungen könnte sich hier eine Dynamik entwickeln, die zu Arbeitsplatzverlusten führt.

Für die Zukunft wird es entscheidend sein, die Erwerbsbeteiligung von Frauen weiter zu verbessern. Dies bezieht sich auf die Zahl der Frauen, die insgesamt erwerbstätig sind, und die Zahl der Arbeitsstunden der erwerbstätigen Frauen. Verschiedene Studien kommen zu dem Schluss, dass die Erwerbsbeteiligung von Frauen in Deutschland wesentlich davon abhängt, ob es im Haushalt Kinder gibt. So zeigt Rengers (2012) auf Basis des Mikrozensus 2010, dass 79,1 % der kinderlosen Frauen im Alter zwischen 25 und 59 Jahren erwerbstätig waren, während es bei Frauen mit einem jüngsten Kind unter drei Jahren nur 48,4 % waren. Darüber hinaus arbeiten viele Frauen Teilzeit. Dies führt dazu, dass die Zahl der geleisteten Arbeitsstunden je Beschäftigten in Deutschland niedriger ist als in den meisten Ländern der OECD (Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung), vgl. OECD (2014b). Eine Erhöhung der Erwerbstätigkeit von Müttern erfordert eine dauerhafte und verlässliche Betreuung von Schulkindern in hoher pädagogischer Qualität. Boll u. a. (2013) schätzen, dass durch eine verbesserte Betreuungssituation über 500.000 Mütter zusätzlich für den Arbeitsmarkt aktiviert werden könnten.

Studie Prof. Bräuninger Grafik 5 Abbildung 5

Häufig findet die Teilzeittätigkeit im Rahmen von Minijobs statt. Damit sind in der Regel geringe Einkommen, eine relativ schlechte individuelle Alterssicherung und geringe Karrierechancen verbunden, vgl. z. B. Wippermann (2012). Insofern wird auch immer wieder über eine Einschränkung der Möglichkeiten von Minijobs diskutiert. Dies könnte jedoch bewirken, dass die Frauen gar nicht mehr arbeiten. Eine Befragung von Frauen, die nach längerer Zeit der Nichterwerbstätigkeit wieder in den Arbeitsmarkt einsteigen möchten, zeigt, dass diese ganz überwiegend Teilzeitbeschäftigung anstreben, vgl. Diener, Götz, Schreyer und Stephan (2013). Sofern eine vollzeitnahe Teilzeit angestrebt wird, würde diese zu deutlich höheren Nettoeinkommen führen als der Minijob. Sofern aber, etwa aufgrund familiärer Belastungen, eine geringe Stundenzahl angestrebt wird, könnte eine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung sehr viel unattraktiver sein als der Minijob. Abbildung 5 zeigt für unterschiedliche Familienkonstellationen und Einkommensgruppen die Belastung mit Steuern und Abgaben in Deutschland im Vergleich zum OECD-Durchschnitt. Gerade im unteren Lohnbereich kommt es zu erheblichen Belastungen der Einkommen mit Sozialabgaben, die linear zu einem festen Prozentsatz erhoben werden.

In allen Gruppen liegt die Belastung in Deutschland höher als im Durchschnitt der OECDLänder. Besonders groß ist der Abstand bei Alleinstehenden mit geringem Einkommen und Kindern. Dies wird durch die hohe Belastung mit Sozialabgaben hervorgerufen, die zu einem konstanten Prozentsatz über alle Einkommensgruppen erhoben werden.

Bei Paaren mit Kindern und nur einem Einkommen ist der Abstand zur durchschnittlichen Besteuerung in den Industrieländern am geringsten. Bei einem zweiten Familieneinkommen steigt die Differenz wieder an. Hier kommt die steigende Grenzbelastung für das zweite Einkommen aufgrund des progressiven Steuertarifs zum Tragen.

3.3 | Reformvorschläge

Die Erwerbsbeteiligung ist zwischen 2010 und 2013 gestiegen. Dabei hätte das Beschäftigungswachstum schon in den letzten Jahren stärker ausfallen können, wenn es angebotsseitig, das heißt durch Personalengpässe insbesondere im mittleren Qualifikationsbereich gebremst worden wäre, vgl. OECD (2013). Notwendig ist insofern die weitere Verbesserung der Erwerbsquoten von Frauen. Dazu müssen die schon begonnenen Maßnahmen zur Verbesserung der Vereinbarkeit von Familie und Beruf fortgeführt werden, vgl. Boll u.a. (2013). Im Bereich der Kinderbetreuung ist es mit der Einführung des Rechtsanspruchs auf Kindergartenplätze für Kinder vom ersten Lebensjahr an zu einer deutlichen Verbesserung gekommen. Zum Teil ist aber die Qualität der geschaffenen Kindergartenplätze nicht ausreichend, so dass hier Verbesserungen notwendig sind. Dazu müssen zum einen staatliche Mindeststandards gesetzt werden und zum anderen muss Wettbewerb unter den Anbietern für ein differenziertes und qualitativ hochwertiges Angebot sorgen, vgl. Spieß (2101).

Gleichzeitig ist aber auch zu prüfen, ob nicht die Kombination von steuer- und sozialpolitischen Maßnahmen zu Fehlanreizen für die Vollzeitbeschäftigung von Frauen führt. So vertritt unter anderem die OECD die Auffassung, dass die gemeinsame Steuerveranlagung von Ehegatten und die beitragsfreie Mitversicherung von Ehepartnern den Arbeitsanreiz für verheiratete Frauen reduzieren. Deshalb wird in verschiedenen OECD-Wirtschaftsberichten zu Deutschland empfohlen, das System der gemeinsamen Steuerveranlagung zu reformieren, vgl. z.B. OECD (2012b). Im bisherigen System wird die Besteuerung auf das Haushaltseinkommen abgestellt. Dieses wird zu gleichen Teilen auf die Ehepartner verteilt. Dann zahlt jeder Partner den individuellen Steuersatz, so dass die Steuerschuld für das Ehepaar unabhängig von der Verteilung der Einkommen zwischen den Partnern ist. Aufgrund der progressiven Besteuerung führt dies dazu, dass bei ungleicher Verteilung der Einkommen zwischen den Partnern die Steuerschuld des Ehepaars geringer ist als bei einer individuellen Besteuerung der Einkommen. Dabei ist der Vorteil umso höher, je höher das Haushaltseinkommen und je unterschiedlicher die Partnereinkommen sind.

Viele Ehepaare werden nicht die Frage stellen, wie die Erwerbstätigkeit zwischen den Partnern aufgeteilt wird, sondern die Arbeitszeit (und das Einkommen) des Mannes werden als gegeben betrachtet. Es stellt sich dann „nur noch“ die Frage, ob und in welchem Umfang die Frau arbeitet. In diesem Fall wird das, für das Ehepaar zusätzliche, Einkommen der Frau mit dem Grenzsteuersatz des Mannes versteuert. Die negative Anreizwirkung einer progressiven Besteuerung fällt somit vollständig auf die Arbeitszeit der Frau. Der für das Ehepaar positive Effekt des Splittingtarifs wird vollständig dem Einkommen des Mannes zugeschrieben, für das Einkommen der Frau wird aufgrund der Entscheidungssequenz nur der hohe Grenzsteuersatz wahrgenommen.

Bei einer Individualbesteuerung würden die negativen Arbeitsanreize stärker über beide Partner verteilt. Dies könnte dazu führen, dass die Erwerbsbeteiligung von Frauen steigt, die von Männern aber gleichzeitig sinkt. Dies hätte bezüglich der Gleichstellung von Männern und Frauen positive Effekte, die aufgrund des demografischen Wandels notwendige Ausweitung der Erwerbsquoten würde aber nur unzureichend erreicht. Insofern sollte über die Steuerprogression insgesamt nachgedacht werden.

Eine Abkehr vom Ehegattensplitting hin zu einer Individualbesteuerung ist verfassungsrechtlich umstritten. Während einige Autoren der Meinung sind, dass die Besteuerung von Ehepaaren nicht notwendig auf der Ebene der Haushalte ansetzt, leiten andere aus dem Schutz der Ehe ab, dass die Steuerlast nicht davon abhängen darf, welcher Ehegatte in welchem Ausmaß zum Einkommen beiträgt. Ein gangbarer Schritt könnte darin bestehen, das Ehegattensplitting mit dem Einkommenssteuerjahresausgleich durchzuführen. In diesem Fall würden zunächst beide Ehepartner mit den individuellen Steuersätzen belastet. Beim Einkommensteuerjahresausgleich würde das Splitting durchgeführt, wobei die Rückerstattung gleichmäßig auf beide Partner verteilt wird. Am Jahresende wäre die Steuerlast für Ehepaare die gleiche wie derzeit, aber die (offiziell bisher nicht stattfindende) individuelle Zurechnung der Steuern wäre eine andere.

Im unteren Einkommensbereich haben die Sozialabgaben eine wesentlich größere Bedeutung als die Steuern (vgl. dazu auch Abschnitt 4.3). Die Abschaffung der beitragsfreien Mitversicherung von nicht erwerbstätigen Ehepartnern würde zwar den Anreiz zu Arbeitsaufnahmen von bisher mitversicherten Partnern deutlich erhöhen, in diesem Bereich aber auch zu erheblichen Belastungen führen, vgl. Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung (2013). Darüber hinaus würden bisher freiwillig in der gesetzlichen Krankenversicherung Versicherte diese massenhaft verlassen und in die privaten Versicherungen wechseln, bei denen schon heute das Individualprinzip gilt. Die Folge wären erhebliche Finanzierungsschwierigkeiten der gesetzlichen Krankenversicherungen. Eine Auflösung der beitragsfreien Mitversicherung ohne eine grundlegende Reform des gesamten Systems der Krankenversicherung scheint somit wenig realistisch.

Teaser Migranten

4 | Geringqualifizierte

 

4.1 | Bestandsaufnahme

Arbeitslosigkeit ist vor allem ein Problem der Geringqualifizierten. Je geringer die Qualifikation, desto größer ist das Risiko der Arbeitslosigkeit, vgl. Weber und Weber (2013). Abbildung 6 zeigt die Entwicklung der Arbeitslosenquote insgesamt und die der Geringqualifizierten. Dabei ist die Quote für die Geringqualifizierten auf der rechten Skala abgetragen, die von der Spannbreite doppelt so groß ist wie die linke Skala.

Studie Prof. Bräuninger Grafik 6 Abbildung 6

Zu Beginn der 1990er Jahre lag die Arbeitslosenquote der Geringqualifizierten mit 14,5 % etwa doppelt so hoch wie die für die Arbeitslosen insgesamt. Den mit fast 12 % höchsten Stand erreichte die Arbeitslosenquote 2005; zu diesem Zeitpunkt lag die Arbeitslosenquote der Geringqualifizierten bei 26 %. Seither gehen beide Quoten zurück. Im Jahr 2012 lag die durchschnittliche Arbeitslosenquote bei 6,8 %. Die Quote bei den Geringqualifizierten lag mit 19 % fast dreimal so hoch. Diese Entwicklung zeigt, dass auch die Geringqualifizierten von der insgesamt verbesserten Lage am Arbeitsmarkt profitieren, allerdings im geringeren Ausmaß als diejenigen mit besseren Qualifikationen, vgl. Söhnlein, Weber und Weber (2013).

Bogai, Buch und Seibert (2014) differenzieren Arbeitsplätze und Arbeitslose in vier Qualifikationsniveaus. Sie zeigen, dass 40 % der Arbeitslosen aufgrund ihrer geringen Qualifikation auf die Suche nach Tätigkeiten im niedrigsten Qualifikationsniveau (Helfertätigkeiten) beschränkt sind. Dabei entspricht nur jeder siebte Arbeitsplatz diesem Niveau. Absolut betrachtet finden sich die meisten Arbeitsplätze für Geringqualifizierte im produzierenden Gewerbe (25 % dieser Arbeitsplätze). Hier sind die Arbeitsplätze häufig an qualifizierte Arbeit geknüpft, wobei der Anteil der Geringqualifizierten zurückgeht. Bereiche in, denen die Arbeitsplätze für Geringqualifizierte konstant sind oder steigen, sind die Arbeitnehmerüberlassung, die Reinigungs- und Wachdienste, der Agrarsektor und das Gastgewerbe.

Die schlechteren Arbeitsmarktchancen von Geringqualifizierten führen dazu, dass die Perspektiven für Arbeitslose ohne deutsche Staatsangehörigkeit besonders schlecht sind. Von diesen sind über 60 % auf der Suche nach Helfertätigkeiten. In Teilen ist dies auf einen tatsächlich niedrigen Bildungsstand zurückzuführen, in Teilen kann aber auch die Nichtanerkennung der im Ausland erworbenen Bildungsabschlüsse die Ursache sein.

Die Beschäftigungschancen der Geringqualifizierten sind regional sehr unterschiedlich. Bogai, Buch und Seibert (2014) zeigen, dass die Arbeitsmarktperspektiven für Helfer vor allem in den industriell geprägten Regionen Bayerns und Baden-Württembergs, sowie in einigen ländlichen Regionen von Rheinland-Pfalz und Niedersachsen besonders günstig sind. Von insgesamt 34 Kreisen mit einer Arbeitslosenquote der Helfer von unter 10 Pro-zent befinden sich 29 im Freistaat, vier in Baden-Württemberg und einer in Niedersachsen. Besonders schlecht sind ihre Perspektiven in den Regionen mit insgesamt hoher Arbeitslosigkeit, wie in Ostdeutschland und im Ruhrgebiet.

Studie Prof. Bräuninger Grafik 7 Abbildung 7

Die Geringqualifizierten sind besonders häufig von Langzeitarbeitslosigkeit betroffen. Dies ist in zweifacher Hinsicht ein besonderes Problem. Zum Ersten steigen mit der Dauer der Arbeitslosigkeit die sozialen Folgen, und zum Zweiten sinken die Qualifikationen weiter ab, so dass die Beschäftigungschancen abnehmen. Über längere Zeit stieg der Anteil der Langzeitarbeitslosen in Deutschland deutlich an und lag in der Spitze bei fast 50%. So wurde ein gespaltener Arbeitsmarkt befürchtet, in dem es zum einen Arbeitskräftemangel für die qualifizierten Beschäftigten gibt und zum anderen eine verfestigte Langzeitarbeitslosigkeit von Geringqualifizierten. Abbildung 7 zeigt, dass sich diese Befürchtung nicht bewahrheiten muss. In den Jahren zwischen 2007 und 2011 ist die Zahl der Langzeitarbeitslosen sogar stärker zurückgegangen als die derjenigen, die weniger als ein Jahr arbeitslos waren, so dass der Anteil der Langzeitarbeitslosen von 46 % auf 36 % reduziert wurde. Seit 2011 stagniert die Zahl der Langzeitarbeitslosen aber bei etwas über 1 Mio. Der Anteil der Langzeitarbeitslosen ist wieder geringfügig angestiegen. Insofern ist zu prüfen, ob und wie hier weitere Fortschritte erzielt werden können.

4.2 | Ursachenanalyse

Die besonderen Arbeitsmarktprobleme der Geringqualifizierten sind kein deutsches Phänomen: Die Ungleichheit der Einkommen zwischen qualifizierter und gering qualifizierter Arbeit nimmt in allen Industrieländern zu. Gleichzeitig nehmen die relativen Beschäftigungschancen der Geringqualifizierten ab, vgl. OECD (2011). Zwei globale Trends sind dafür verantwortlich:

  1. Technischer Fortschritt
  2. Globalisierungsprozesse

Technischer Fortschritt erhöht die Ungleichheit, wenn er die Produktivität der qualifi-zierten Arbeit stärker erhöht als die der Geringqualifizierten. So können neue computergesteuerte Maschinen standardisierte und gering qualifizierte Arbeit ersetzen, so dass in diesem Bereich die Arbeitsnachfrage zurückgeht. Gleichzeitig steigt die Produktivität derjenigen, die diese Maschinen erstellen und bedienen. Wenn es keine Anpassung des Arbeitsangebots an die veränderte Nachfragesituation gibt, werden die Löhne für qualifizierte Arbeitskräfte steigen und die für Geringqualifizierte fallen, vgl. Katz und Autor (1999). Sollte die Lohnanpassung unterbleiben, wird sich die veränderte Arbeitsnachfrage auch in unterschiedlichen Arbeitslosenquoten widerspiegeln.

Auch die Globalisierung hat zu den unterschiedlichen Entwicklungen der Arbeitsmarkt-chancen der verschiedenen Qualifikationsniveaus beigetragen. Mit der Zerlegung der Produktionsketten über verschiedene Länder und Kontinente wurden einfache und standardisierte Arbeiten von den Industrieländern in Schwellenländer verlagert. Auch internationaler Handel kann zur wachsenden Ungleichheit beitragen. Sofern die Geringqualifizierten besonders in Unternehmen arbeiten, deren Produkte stark dem internationalen Wettbewerb ausgesetzt sind, kann der internationale Handel im besonderen Maße Rationalisierungen und Produktivitätssteigerungen notwendig machen, vgl. Feenstra und Hanson (1996). Der Zusammenhang zwischen Globalisierung und Ungleichheit zeigt sich in einer Vielzahl von empirischen Studien auf Ebene der Unternehmen, der Nachweis des Zusammenhangs auf aggregierter Ebene ist bisher wenig robust, vgl. OECD (2012a).

Weder technischer Fortschritt noch die Globalisierung können sinnvoll verhindert oder aufgehalten werden. Im Rahmen einer sozialen Marktwirtschaft wird es immer die Freiheit der Unternehmen sein, neue Technologien einzusetzen und Teile der Produktionsprozesse in andere Länder zu verlagern. Die Industrieunternehmen stehen selbst im globalen Wettbewerb und sind insofern gezwungen, Maßnahmen zur Kostensenkung durchzuführen, vgl. Acemoglu (2002). Deutschland insgesamt hat von diesen Prozessen erheblich profitiert. Die Exporterfolge und die damit verbundene günstige Arbeitsmarktentwicklung sind wesentlich auf die globale Vernetzung der deutschen Wirtschaft zurückzuführen. Vor diesem Hintergrund gibt es für geringqualifizierte Arbeitskräfte nur zwei Möglichkeiten: 1) Sie erlangen bessere Qualifikationen oder 2) sie wechseln in den Dienstleistungssektor und akzeptieren dort die geringeren Löhne. Dabei könnten diese unterhalb der Schwellenwerte liegen, die als sozial akzeptable Mindesteinkommen angesehen und deshalb über Transfers abgesichert werden. In diesem Fall besteht für die Individuen kaum Anreize die gering bezahlte Arbeit aufzunehmen.

4.3 | Reformvorschläge

Regionale Mobilität von Arbeitslosen kann angesichts der großen regionalen Unterschiede bezüglich der Arbeitslosigkeit von Geringqualifizierten zu einem Abbau der Arbeitslosigkeit insgesamt beitragen. Dennoch wird die Arbeitslosigkeit von Geringqualifizierten angesichts des deutlichen Angebotsüberhangs ein zentrales Problem bleiben. Langfristig können die gravierenden Beschäftigungsprobleme der Geringqualifizierten durch die Anhebung des Qualifikationsniveaus gemindert werden. So ist Bildung der beste Schutz vor Arbeitslosigkeit und Niedriglöhnen, vgl. Weber und Weber (2013). Insbesondere müssen Schul- und Ausbildungsabbrüche durch präventive Maßnahmen vermieden werden und eine bessere Berufsorientierung erzielt werden. Außerdem sollte das Bildungssystem für Aufstieg, Durchlässigkeit und dauerhafte Beschäftigungsfähigkeit sorgen. Dazu gehört auch die Fort- und Weiterbildung der älteren Erwerbstätigen (siehe dazu auch Abschnitt 5). Vorschläge zur Reform des Bildungssystems finden sich in Aktionsrat Bildung (2011). Diese Reformen sind von zentraler Bedeutung, aber sie werden nicht bei allen Arbeitnehmern greifen und sie werden erhebliche Zeit benötigen. Deshalb ist es auch notwendig, Beschäftigungsmöglichkeiten für Geringqualifizierte zu schaffen.

Ein Bereich in dem auch zukünftig geringqualifizierte Arbeitsplätze entstehen können, ist der Dienstleistungssektor. Die Nachfrage in diesem Bereich ist allerdings sehr preissensibel, so dass es einen erheblichen Druck auf die Löhne gibt. Die Folge sind häufig Niedriglöhne. Da diese oft als ungerecht empfunden werden, hat die große Koalition die Ein-führung von Mindestlöhnen beschlossen. Da die Löhne in höhere Preise weitergegeben werden, besteht die Gefahr, dass hier Arbeitsplätze für Geringqualifizierte verloren gehen. Zugleich bieten Mindestlöhne keine Absicherung gegen Armut. So zeigen Bruckmeier und Wiemers (2014), dass die meisten von denjenigen, die als Aufstocker derzeit Lohnzuschüsse erhalten, auch mit dem Mindestlohn noch Unterstützungen erhalten müssen. Insgesamt wird der Mindestlohn somit die Arbeitsmarktchancen der Geringqualifizierten verschlechtern ohne dabei die sozialpolitischen Ziele zu erreichen.

In der öffentlichen Wahrnehmung besteht ein gewisser Widerspruch zwischen einer geringen Ausgabenbereitschaft für Dienstleistungen und den als niedrig und ungerecht empfundenen Löhnen in diesem Bereich. Dieser Widerspruch löst sich teilweise auf, wenn man die Spanne zwischen Nettolöhnen und Arbeitskosten berücksichtigt. Die Preise werden von den Arbeitskosten bestimmt, die Nachfrage wird aber über den Nettolohn finanziert. Deutschland hat die im OECD-Vergleich zweithöchste Belastung der Löhne mit Steuern und Abgaben. Für den Durchschnittsverdiener liegt die Spanne zwischen Arbeitskosten und Nettolöhnen bei 49,3 %. Somit steht nur etwa die Hälfte des individuell erwirtschafteten Arbeitseinkommens für die individuellen Ausgaben zur Verfügung. Gleichzeitig werden auch geringe Einkommen und Niedriglöhne schon mit erheblichen Abgaben belastet. Für alle Einkommen über 800 Euro im Monat treiben die Sozialabgaben einen Keil von 40 % zwischen die Arbeitskosten des Unternehmens und den Nettolohn des Arbeitnehmers, vgl. Tabelle 1. Im unteren Lohnbereich wird darüber hinaus für Alleinstehende ab einem Einkommen von 8354 Euro jährlich die Lohnsteuer mit einem Eingangssatz von 14 % fällig. Insgesamt liegt damit die Steuer- und Abgabenquote bei 54 %, wobei der größte Teil auf die Sozialabgaben entfällt. Die OECD hat im OECD-Wirtschaftsbericht Deutschland wiederholt empfohlen, das Steuersystem mit einer Verringerung der Abgaben- und Steuerbelastung von Erwerbseinkommen, vor allem für Geringverdiener, wachstumsfreundlicher zu gestalten, vgl. OECD (2012b, 2014b).

Die Zeitarbeitsbranche hat eine besondere Bedeutung als Einstiegsmöglichkeit für Geringqualifizierte. Hier hat, nach der Deregulierung im Jahr 2003, ein erhebliches Beschäftigungswachstum stattgefunden. Dennoch wird die Zeitarbeit häufig nicht positiv bewertet, sondern mit prekärer Beschäftigung und Niedriglöhnen assoziiert. Tatsächlich arbeitet ein großer Teil der Zeitarbeiter im Niedriglohnbereich. Dies ist jedoch häufig darauf zurückzuführen, dass die Zeitarbeitnehmer jung und gering qualifiziert sind. Zu zwei Dritteln kommen sie aus der Arbeitslosigkeit oder Nicht-Beschäftigung (vgl. Spermann (2013a) und Spermann (2013b)).

Studie Prof. Bräuninger Grafik 8 Abbildung 8

Die Beschäftigung im Niedriglohnsektor ist unproblematisch, sofern sie die Möglichkeit bietet zunächst aus der Arbeitslosigkeit auszusteigen und dann langfristig auch aus dem Niedriglohnsektor herauswachsen. Insofern ist entscheidend, ob und inwieweit es eine Aufwärtsmobilität gibt. Schäfer und Schmidt (2011) analysieren Eintritte und Übergänge in den Niedriglohnsektor, sowie Austritte und Übergänge aus dem Niedriglohnsektor mit Daten des sog. sozio-oekonomischen Panels (SOEP). Sie zeigen, dass gut die Hälfte aller Austritte in Richtung höherer Einkommen stattfindet. Stephani (2012) untersucht verknüpfte Arbeitgeber-Arbeitnehmer-Daten des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) für die Periode 2001 bis 2006 und zeigt, dass im Niedriglohnsektor ein hohes Maß von Aufwärts- und Abwärtsmobilität existiert. Dabei ist die Aufwärtsmobilität kein temporäres Phänomen, da sich die Mehrheit der Geringverdiener, die aus dem Niedriglohnsektor aufgestiegen sind, auch zwei Jahre später immer noch in höher bezahlter Beschäftigung befand.

Von dem Beschäftigungszuwachs bei den Zeitarbeitern haben vor allem Geringqualifizierte profitiert, die sonst nur geringe Chancen am Arbeitsmarkt haben. Dies dürfte auch darauf zurückzuführen sein, dass im Bereich der temporären Beschäftigung sehr viel fle-xiblere Arbeitsverträge möglich sind als bei unbefristeten Beschäftigungsverhältnissen. Ein Vergleich unter OECD-Ländern zeigt, dass der Kündigungsschutz für unbefristete Arbeitsverhältnisse besonders hoch ist, der für befristete Arbeitsverhältnisse liegt hingegen im Mittelfeld der Industrieländer, vgl. Abbildung 8.

Vor dem Hintergrund des Beschäftigungserfolgs der Zeitarbeit erscheint es äußerst fraglich, hier die Flexibilität einzuschränken. Dies gilt besonders, da die Tarifparteien in der Zeitarbeit nun Branchenzuschlags-Tarifverträge vereinbart haben. Dadurch werden die Lohndifferenzen zwischen Zeitarbeitnehmern und Stammbeschäftigten stufenweise verringert, so dass ein Zeitarbeitnehmer nach neun Monaten Überlassung an einen Kunden genauso viel Lohn wie ein Stammbeschäftigter erhält. Für einen weiteren gesetzlichen Schutz der Zeitarbeit besteht insofern immer weniger Anlass.

Teaser Rentner

5 | Erwerbstätige im Alter

 

5.1 | Bestandsaufnahme

In den letzten Jahren hat die Altersgruppe der 55- bis unter 65-Jährigen zugenommen. Entsprechend der demografischen Projektionen des Statistischen Bundesamtes wird sich die Alterung in den nächsten Jahren fortsetzen, vgl. Abbildung 9 .

Studie Prof. Bräuninger Grafik 9 Abbildung 9

Vor diesem Hintergrund ist die Erwerbsbeteiligung der Älteren von besonderer Bedeutung, die sich in den letzten Jahren positiv entwickelt hat. So nehmen immer mehr Ältere am Erwerbsleben teil. Da der Anteil der Erwerbstätigen in der Altersgruppe zwischen 55 und 65 Jahren in den letzten zehn Jahren stärker zugenommen hat als in der Gruppe der Personen im erwerbsfähigen Alter insgesamt (15 bis unter 65 Jahre), hat der Anteil der älteren Beschäftigten zugenommen, vgl. Abbildung 9. Dabei ist insbesondere die sozialversicherungspflichtige Beschäftigung in der Altersklasse 55-65 Jahre stark angestiegen. Die Altersgruppe der 55- bis unter 60-Jährigen unterschied sich hinsichtlich der Erwerbsbeteiligung 2012 nicht mehr vom Durchschnitt aller Altersklassen. Die Gruppe der 60- bis unter 65-Jährigen hingegen war aufgrund von vorgezogenem Ruhestand seltener beschäftigt als der Durchschnitt. Als Ergebnis der Entwicklung ist die Erwerbstätigenquote der Älteren in Deutschland im Vergleich mit anderen europäischen Ländern überdurchschnittlich hoch. Auch die Arbeitslosigkeit der 55- bis 60-Jährigen ist mit der Arbeitslosigkeit insgesamt zurückgegangen. Da verschiedene Vorruhestandsregeln geendet haben, hat die Arbeitslosigkeit der 60- bis 65-Jährigen zeitweise zugenommen. Betrachtet man das breitere Konzept der Unterbeschäftigung, so ist diese bei den Älteren kontinuierlich zurückgegangen. Für ältere Arbeitslose stellt Langzeitarbeitslosigkeit ein sehr viel größeres Problem dar als für die Arbeitslosen insgesamt. So sind fast 50 % der 55- bis 60-Jährigen Arbeitslosen langzeitarbeitslos. Bei den Jüngeren sind es hingegen nur etwa 30 %, bei den 60- bis 65-Jährigen liegt die Quote bei 44 %. Im Arbeitsmarkt der Älteren sind die Fluktuationen deutlich geringer als bei den Jüngeren. So ist für Ältere das Risiko, arbeitslos zu werden, geringer, dafür haben sie aber auch geringere Chancen eine neue Stelle zu finden.

Die Entwicklungen zeigen, dass durch Veränderungen der institutionellen Regeln die Arbeitsmarktbeteiligung der Älteren deutlich verändert werden kann. Hier sind trotz der schon erzielten Erfolge weitere Reformen notwendig, damit Deutschland zu anderen Industrieländern aufschließt. In den Jahren 2007 bis 2012 lag das effektive Renteneintrittsalter in 24 von 34 OECD-Ländern später als in Deutschland. Außerdem arbeiten die Älteren in Deutschland häufig nicht in Vollzeit-Tätigkeiten, was wesentlich auf spezielle Altersteilzeitmodelle zurückzuführen ist, vgl. OECD (2014a).

Das effektive durchschnittliche Renteneintrittsalter wird von drei Faktoren beeinflusst:

  1. dem gesetzlichen Renteneintrittsalter
  2. dem Anteil derjenigen, die vor Eintritt des gesetzlichen Renteneintrittsalters in den Ruhestand zu gehen
  3. dem Anteil derjenigen, die nach Eintritt des gesetzlichen Renteneintrittsalters weiter erwerbstätig sind.
Studie Prof. Bräuninger Grafik 10 Abbildung 10

Bezüglich des gesetzlichen Renteneintrittsalters und der Möglichkeiten, vorzeitig in den Ruhestand zu gehen, haben in Deutschland Reformen stattgefunden, die dahingehend Wirkung zeigen, dass sich das effektive Renteneintrittsalter nach hinten verschiebt. Dennoch werden einige Ältere aus gesundheitlichen Gründen vorzeitig in den Ruhestand gehen – dies wird in allen Industrieländern so sein. Allerdings liegt zum Beispiel in Norwegen oder in den USA das effektive dicht bei dem gesetzlichen Renteneintrittsalter. In diesen Ländern gleichen diejenigen, die nach dem gesetzlichen Renteneintrittsalter in den Ruhestand gehen, diejenigen aus, die dies vorher tun. Im Gegensatz dazu findet in Deutschland bisher – zumindest im Bereich der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung – kaum Erwerbstätigkeit nach dem gesetzlichen Renteneintrittsalter statt.

Mit einem Perspektivwechsel bei der Beschäftigung Älterer kommt es auch zu Verhaltensanpassungen. Voraussetzung für eine Beschäftigung ist, dass die Produktivität der Älteren erhalten bleibt. Dazu ist es notwendig, dass auch die Älteren an Weiterbildungsmaßnahmen teilnehmen, die sowohl für Arbeitnehmer als auch für Arbeitgeber mit Kosten verbunden sind. Die Einstellung, dass die Beschäftigung für Ältere ohnehin nicht mehr lange währen würde, hat lange dazu geführt, dass Ältere nicht ausreichend an der Weiterbildung teilnahmen. Abbildung 10 zeigt, dass es hier einen deutlichen Wandel gegeben hat.

5.2 | Ursachenanalyse

Die Veränderungen der Erwerbstätigkeit von Älteren ist wesentlich auf die verschiedenen Renten- und Arbeitsmarktreformen in den 2000er Jahren zurückzuführen. Diese Rentenreformen haben den vorzeitigen Eintritt in den Ruhestand erschwert oder sind mit höheren Rentenabschlägen versehen. Mit der Agenda 2010 kamen Arbeitsmarktreformen hinzu, die die Attraktivität des vorzeitigen Ausscheidens aus dem Erwerbsleben ebenfalls stark verminderten. Der letzte wichtige Schritt war die Rentenreform im Jahr 2007, bei der beschlossen wurde, das Renteneintrittsalter anzuheben. Dies gilt für Personen, die nach 1947 geboren wurden, wobei die Anhebung schrittweise erfolgt. Die erste Anhebung erfolgte im Jahr 2012, abgeschlossen ist der Prozess 2029. Damit wird für alle Personen, die nach 1963 geboren wurden, das Standardrenteneintrittsalter bei 67 Jahren liegen. Insgesamt entspricht die Anhebung des Rentenalters etwa der Forderung der EU-Kommission, nach der das Renteneintrittsalter an die Lebenserwartung gekoppelt sein sollte. Damit würde sich die Erwerbsphase mit der steigenden Lebenserwartung automatisch verlängern. Die Ruhestandsphase würde über die Altersjahrgänge gleich bleiben und nicht mehr wie bisher immer länger werden. Um diese Forderung auch langfristig zu erfüllen, wären in der Zeit nach 2030 weitere Anpassungen des Renteneintrittsalters notwendig.

Mit den Renten- und Arbeitsmarktreformen wurde der Druck zur Arbeitsaufnahme auch für ältere Arbeitnehmer erhöht. So wurde die Bezugsdauer des Arbeitslosengelds verkürzt und die Möglichkeit für den vorzeitigen Renteneintritt genommen. Gleichzeitig wurde mit dem Programm "Perspektive 50plus" die Förderung von 50-Jährigen und älteren Langzeitarbeitslosen verbessert. Über regionale differenzierte Programme sollte deren Integration in den ersten Arbeitsmarkt verbessert werden.

Wesentlich für die weitere Verbesserung der Erwerbsquote Älterer ist ein Perspektivenwechsel in der Gesellschaft. Die zahlreichen Frühverrentungsmöglichkeiten und generösen Rentenregelungen der 1970er und 1980er Jahre haben für lange Zeit eine Gesellschaft geprägt, die im Alter von 50 Jahren mental bereits die Rente ins Auge fasst. Bei einem Beginn des Erwerbslebens im Alter von 20 Jahren und einem Austritt im Alter von 65 bzw. bald 67 Jahren, liegen im Alter von 50 Jahren jedoch gerade einmal zwei Drittel der Erwerbsphase zurück. Vor diesem Hintergrund ist die aktuelle Änderung der Rentenreform, nach der Versicherte mit 45 Versicherungsjahren wieder mit 63 Jahren in den Ruhestand gehen können, ein falsches Signal, auch wenn weiter geplant ist das Alter wieder auf 65 Jahre anzuheben. Durch die zeitweise Herabsetzung des Renteneintrittsalters könnte der Eindruck entstehen, dass die Reformen nicht dauerhaft gelten, sodass der Perspektivenwechsel nicht erfolgt, vgl. Bräuninger und Wilke (2014).

Mit einem Perspektivenwechsel bei der Beschäftigung Älterer kommt es auch zu Verhal-tensanpassungen. Voraussetzung für eine Beschäftigung ist, dass die Produktivität der Älteren erhalten bleibt. Dazu ist es notwendig, dass auch die Älteren an Weiterbildungs-maßnahmen teilnehmen, die sowohl für Arbeitnehmer als auch für Arbeitgeber mit Kosten verbunden sind. Die Einstellung, dass die Beschäftigung für Ältere ohnehin nicht mehr lange währen würde, hat lange dazu geführt, dass Ältere nicht ausreichend an der Weiterbildung teilnahmen. Abbildung 10 zeigt, dass es hier einen deutlichen Wandel gegeben hat.

5.3 | Reformvorschläge

Der deutlich höhere Anteil von Langzeitarbeitslosen unter Älteren ist zum Teil auch da-rauf zurückzuführen, dass die Älteren für längere Zeit Arbeitslosengeld beziehen können. Im Rahmen der Hartz-Reformen wurde im Jahr 2006 die maximale Bezugsdauer des Ar-beitslosengelds für ältere Arbeitnehmer (55-Jährige und Ältere) von 32 auf 18 Monate verkürzt. Alle übrigen Arbeitslosen können seitdem noch zwölf Monate lang Arbeitslosen-geld I beziehen, bevor sie in die Grundsicherung abrutschen. Dies hat wesentlich zu der größeren Dynamik am Arbeitsmarkt und dem Rückgang an Langzeitarbeitslosen beigetra-gen. Für die Älteren wurde diese Reform 2008 teilweise zurückgenommen. So wird seit-dem das Arbeitslosengeld für Ältere wieder bis zu 24 Monate gewährt. Vieles spricht dafür, dass es bei einer Gleichbehandlung der Altersgruppen auch zu ähnlichen Anteilen an Langzeitarbeitslosen kommen würde.

Um die Dynamik am Arbeitsmarkt für Ältere zu verbessern, sollten auch spezielle Regeln des Kündigungsschutzes überprüft werden. So führt das Lebensalter als Sozialaus-wahlkriterium bei betrieblichen Kündigungen dazu, dass ältere Arbeitnehmer einen höhe-ren Kündigungsschutz erhalten als jüngere. Dies hat zur Folge, dass Ältere seltener ar-beitslos werden. Gleichzeitig wird damit aber auch die Einstellung von älteren Arbeitnehmern erschwert. Tatsächlich sollte Alter weder positiv noch negativ diskriminiert werden. Nur wenn die Beschäftigung älterer Arbeitnehmer nicht teurer als die jüngerer ist, gibt es keinen Anreiz, die Jüngeren zu bevorzugen.

Damit die Erwerbsquoten der Älteren weiter steigen, darf am gesetzlichen Rentenalter von 67 Jahren kein Zweifel gelassen werden. Damit dieses entsprechend der individuellen Fähigkeiten und Wünsche von älteren Arbeitnehmern realisierbar ist, müssen flexible Übergänge zwischen Arbeits- und Rentenalter geschaffen werden. Dies wird auch im Koa-litionsvertrag angestrebt (S. 72). Dazu muss sowohl die Möglichkeit gehören, vor Erreichen des Rentenalters weniger als Vollzeit zu arbeiten, als auch, nach Erreichen des Rentenalters weiter erwerbstätig zu sein.

Flexible Regeln des Rentenzugangs müssen dabei bestimmte Bedingungen erfüllen. So darf ihre Nutzung nicht zu einer finanziellen Verbesserung des Einzelnen zu Lasten der Versicherten insgesamt führen. Somit müssen ein vorzeitiger Rentenbezug und/oder eine verminderte Zahlung von Beiträgen in die Rentenversicherung zu versicherungsmathema-tisch fairen Abschlägen beim Rentenbezug führen. Außerdem muss vermieden werden, dass durch flexible Regelungen neue Armutsrisiken entstehen. Dies gilt sowohl für die Arbeitsphase als auch für das Rentenalter, vgl. Dünn (2010).

Es ist möglich, die Erwerbstätigkeit nach Eintritt des Rentenalters fortzuführen. Bei abhängig Beschäftigten ist es jedoch nicht möglich, hierfür Befristungen festzulegen. Die Möglichkeit zu einer Befristung könnte die Bereitschaft der Arbeitgeber erhöhen, das Beschäftigungsverhältnis über das Renteneintrittsalter hinaus zu verlängern.

Im Gegensatz zur Verlängerung der Arbeitszeit kommen Regelungen zu einer vorzeitigen Beendigung des Erwerbslebens sehr viel leichter in einen Konflikt mit den oben genannten Kriterien. Derzeit besteht die Möglichkeit, vor dem Erreichen der Regelaltersgrenze in Rente zu gehen, wenn bestimmte Voraussetzungen erfüllt sind: Diese können in langjähriger Versicherung oder Schwerbehinderung bestehen. In der Vergangenheit bestand auch bei Arbeitslosigkeit die Möglichkeit zum Wechsel in die Rentenversicherung – dies wurde jedoch sehr stark eingeschränkt. Beim vorzeitigen Rentenbezug müssen die Versicherten versicherungsmathematisch kalkulierte Rentenabschläge hinnehmen, sodass es weder zu einer Begünstigung noch zu einer Benachteiligung kommt. Allerdings sind die Verdienstmöglichkeiten im Fall eines Vorruhestands stark eingeschränkt. So dürfen Vor-ruheständler bis zum Erreichen des gesetzlichen Renteneintrittsalters höchstens 450 Euro pro Monat anrechnungsfrei hinzuverdienen. Bei höheren Einkommen muss auf eine Teilrente gewechselt werden. Dabei kann die Rente zu einem Drittel, zur Hälfte oder zu zwei Dritteln in Anspruch genommen werden. Nach Überschreiten des gesetzlichen Renteneintrittsalters sind Hinzuverdienste in beliebiger Höhe möglich. Die Rentenkürzung bei Hinzuverdiensten von Vorruheständlern entspricht einer hohen impliziten Besteuerung des Hinzuverdienstes zur vorzeitigen Rente, die zu einem abrupten Ausscheiden aus dem Erwerbsleben führt, vgl. Schneider (2012). Eine flexiblere Regelung, bei der zumindest die Differenz zwischen Rente und vorherigem Einkommen hinzuverdient werden kann, würde die Erwerbstätigkeit der Vorruheständler sicherlich erhöhen. Die Kontinuität der Beschäftigung würde sich auch positiv auf die Erwerbstätigen nach dem Erreichen des gesetzlichen Renteneintrittsalters auswirken.

Anpassungen der Hinzuverdienstgrenzen sollten aber sukzessive vorgenommen werden, um die Effekte zu beobachten. Es besteht durchaus die Möglichkeit, dass der positive Effekt einer erhöhten Erwerbstätigkeit von Vorruheständlern durch eine größere Zahl von Personen, die in den Vorruhestand gehen, konterkariert wird.