Die Menschen
Willy Brandt

Willy Brandt

Demokratie braucht Leistung. Seine Reformen im eigenen Land beeinflussten die Bundesrepublik nachhaltig.

Mehr Demokratie wagen!

Das Bild seines demütigen Kniefalls vor dem Ghetto-Mahnmal in Warschau ging um die Welt, den Friedensnobelpreis erhielt Willy Brandt für seine Ostpolitik. Doch es waren die Reformen im eigenen Land, die die Bundesrepublik dauerhaft beeinflussten.

 

 

 

Die Botschaft war schlicht, sie war prägnant und sie sollte sich als extrem erfolgreich erweisen: „Willy wählen“ hieß der Slogan, mit dem die SPD den Bundestagswahlkampf 1972 führte. Die öffentliche Unterstützung für Willy Brandt in diesem Herbst 1972 war überwältigend. Viele Künstler, Schriftsteller und Prominente gaben ihre sonst übliche Distanz zur Politik auf, weil sie das Gefühl hatten, dass da jemand ein echtes Interesse an einem Dialog mit ihnen hatte. Einflussreiche Intellektuelle wie Günter Grass und Siegfried Lenz warben nun ganz offen selbst in Kreisen der APO – der studentischen Protestbewegung zu dieser Zeit, die sich durch die terroristische Radikalisierung ihres linken Flügels nach einer bürgerlichen Heimat und einem politisch-moralischen Neubeginn sehnte – für ihren Kanzler. Parteilose Bürger schlossen sich zu Wählerinitiativen zusammen, Jungsozialisten verteilten Flugblätter, Autoaufkleber und Buttons für die „Willy-Wahl“.

Es zeigte sich: Willy Brandt war ein Mann, der wie kein anderer Kanzler vor ihm die Emotionen der Menschen weckte. Am 19. November 1974 erreichte die Bundestagswahl mit 91,1 Prozent eine Rekord-Wahlbeteiligung. Inhaltlich war die Bundestagswahl auch als Abstimmung über einen neuen Stil in der Politik angelegt. 

 

Es wurde ein Triumph für Willy Brandt und die SPD: Die Sozialdemokraten gewannen die Wahl mit 45,8 Prozent der Stimmen, die Jungwähler stimmten sogar zu zwei Drittel für die SPD und ihren Kanzlerkandidaten. An diesem Tag wurde deutlich: Willy Brandt hatte sich über alle Generationen hinweg zu einem Hoffnungsträger eines Landes entwickelt, das bereit war zu wagen, was er schon in seiner ersten Regierungserklärung 1969 gefordert hatte: mehr Demokratie.

 

 

 

 

Die Regierungserklärung Willy Brandts markierte in mehrfacher Hinsicht einen Umbruch in Deutschland: Rund vier Fünftel der Rede bezogen sich auf innenpolitische Themen. Herabsetzung des Wahl- und Mündigkeitsalters, Gleichstellung der Frau im Ehe- und Familienrecht, Ausbau der sozialen Sicherheit – mit der Ankündigung von mehr als 30 Reform- und Modernisierungsvorhaben nahm Brandt die für das Meinungsklima der späten 1960er-Jahre charakteristische „Grundwelle des Veränderungswillens“ (Historiker Hans Günter Hockerts) in der Bevölkerung auf. 

 

Eine Schlüsselstellung bei der Bewältigung des Wandels wies Brandt dabei der Wissenschafts- und Bildungspolitik zu.  „Sie steht an der Spitze der Reformen“, verkündete Brandt bei seinem Amtsantritt. Mehr Chancengleichheit im Bildungswesen war das Ziel. Soziale Ungleichheiten sollten nicht mehr länger durch ein verkrustetes Bildungssystem reproduziert werden, die Herkunft nicht mehr über die Zukunft entscheiden, außerdem sollte die Förderung von bildungsfernen Schichten, sowie von Frauen massiv ausgeweitet werden.

 

Seit Jahren war das Thema in der öffentlichen Diskussion, ausgelöst durch den Pädagogen und Religionsphilosophen Georg Picht, der 1964 bereits von der „deutschen Bildungskatastrophe“ sprach. Er versuchte nachzuweisen, dass die Bundesrepublik im Vergleich zu anderen Industriestaaten einen großen Nachholbedarf habe: Der Anteil der Schülerinnen und Schüler mit Mittlerer Reife oder Abitur und der Studierenden in den einzelnen Jahrgängen sei zu gering, unter anderem weil die Schulzeit zu kurz und die Anzahl der Schülerinnen und Schüler pro Lehrkraft zu hoch sei. Ein Jahr später hatte der Soziologe Ralf Dahrendorf ein weiteres Motiv für durchgreifende Formen des Bildungswesen geliefert: Er kritisierte den geringen Anteil der Arbeiterkindern an weiterführenden Schulen und Universitäten und das Bildungsgefälle zwischen Stadt und Land, Jungen und Mädchen genauso wie das zwischen Nord- und Süddeutschland. Dahrendorf definierte Bildung als „allgemeines Bürgerrecht“.

 

Einig waren sich die Befürworter von Reformen, dass die deutsche Wirtschaft den Anschluss an die internationale Entwicklung verlieren würde und die Bildungs- in eine Wirtschaftskatastrophe führe. Dringend müsse für qualifizierten Nachwuchs gesorgt werden.

 

 

 

Willy Brandt, der für ein anderes Deutschland stand, für die gesellschaftspolitische Erneuerung des Westens und die Aussöhnung mit dem Osten – der berühmte Kniefall von Warschau im Jahre 1970 ist ein Meilenstein der deutschen Geschichte – wusste, wovon er sprach, wenn es um Bildung und Chancengleichheit ging: Als Sohn der Konsum-Verkäuferin Martha Frahm wuchs Herbert Ernst Karl Frahm – erst viel später nannte er sich Willy Brandt – im Lübecker Arbeiterviertel St. Lorenz auf. Seinen leiblichen Vater lernte er nie kennen. Aufgezogen wurde er von seinem Stiefgroßvater, einem überzeugten Sozialdemokraten, der schließlich dafür sorgte, dass sein Enkel mit einem Stipendium 1932 am Lübecker Johanneum das Abitur ablegen konnte – für die damalige Zeit eine ungewöhnliche Chance für einen jungen Menschen aus dem Arbeitermilieu.

 

 

 

In der Bildungspolitik ging es in der Folge rasant voran. Vorschulerziehung, Orientierungsstufe im fünften und sechsten Schuljahr, Gesamtschule, gymnasiale Oberstufenreform mit Grund- und Leistungskursen, es wurde vieles auf den Weg gebracht – und unter gesellschaftspolitischem Blickwinkel konnte die Schulreform Erfolge vorweisen. Die Zahl der Schülerinnen und Schüler, die weiterführende Schulen besuchten, wuchs kontinuierlich. Das Gymnasium zum Beispiel, 1950 von 8,6 Prozent der Schüler und 1960 von 12,8 Prozent besucht, verzeichnete 1970 bereits 15,5 Prozent, was allerdings auch Ausdruck des stark gestiegenen Bildungsbewusstseins der Eltern war, die für ihre Kinder bessere Schulabschlüsse anstrebten. Die Bildungsausgaben von Bund, Ländern und Gemeinden stiegen von 27,6 Milliarden DM im Jahr 1970 auf 56,2 Milliarden DM im Jahr 1975. Mit 15 Prozent durchschnittlicher Steigerung pro Jahr lag ihre Zuwachsrate erheblich über der der gesamten öffentlichen Ausgaben und des Bruttosozialprodukts. Ergebnisse waren unter anderem neue Lehrpläne, neue Inhalte bzw. Schulfächer oder Stundentafeln.

 

 

 

Im Bereich des Hochschulwesens wirkten die eingeleiteten Maßnahmen als Beschleuniger eines Trends. Bereits seit 1965 hatte eine ungewöhnliche Vermehrung der Hochschulen, der Professorenstellen und der Studienplätze stattgefunden. Die Zahl der Studienanfänger wuchs zwischenzeitlich sogar schneller als die entsprechenden Jahrgänge der Bevölkerung. Zwischen 1965 und 1975 nahm die Zahl der 20-Jährigen leicht ab, doch im gleichen Zeitraum verdoppelte sich die Zahl der Studienanfänger. 1965 studierten 384400 Studentinnen und Studenten, 1970 waren es 510000 und 1975 842200. Zwischen 1969, als der Hochschulbau zur Gemeinschaftsaufgabe von Bund und Ländern erklärt worden war, und 1973 wurden sogar 80000 neue Studienplätze geschaffen.

 

Für Bundeskanzler Willy Brandt, der in seiner ersten Regierungserklärung Bildung zur Chefsache erklärt hatte, waren die Reformen stets Herzensangelegenheit, auch wenn ihre Durchsetzung enorm schwierig war. Da Bildungsfragen im föderalen System der Bundesrepublik zur Hoheit der Länder gehören, gab es ein endloses Tauziehen um Kompetenzen. Nur zögernd wurden bestimmte hochschulpolitische Maßnahmen als Gemeinschaftsaufgaben von Bund und Ländern zusammengetragen. Willy Brandt aber packte die Aufgabe als ein idealistischer Gestalter an, der mehr als nur verwalten wollte.

Großflächenmotiv Willy Brandt
Zitat: Willy Brandt, Regierungserklärung vom 18.01.1973
Foto: Konrad R. Müller