Soziale Marktwirtschaft
Soziale Marktwirtschaft

"Verwirklicht die Freiheit in allen Lebensbereichen!"

In einer fiktiven Collage spricht "WELT"-Redakteur Peter Gillies mit den Gründervätern der Sozialen Marktwirtschaft Ludwig Erhard und Alfred Müller-Armack über den Sozialstaat, Subventionen und die 60-Stunden-Woche.

7. Februar 2007

Verwirklicht die Freiheit in allen Lebensbereichen Ludwig Erhard

Die WELT: Professor Erhard, Sie haben sich als "Vater des Wirtschaftswunders" in die deutsche Nachkriegsgeschichte eingeschrieben...

Ludwig Erhard: ... sehr zu meinem Missvergnügen spricht man in der Welt allenthalben von einem "deutschen Wunder"; ein Begriff, den ich nicht gelten lassen möchte, weil das, was sich in den letzten Jahren vollzogen hat, alles andere als ein Wunder war. Es war die Konsequenz der ehrlichen Anstrengung eines Volkes, das nach freiheitlichen Prinzipien die Möglichkeit eingeräumt erhalten hat, menschliche Initiative, menschliche Freiheit, menschliche Energien wieder anwenden zu dürfen.

WELT: Professor Müller-Armack, Sie haben das wissenschaftliche Leitbild der sozialen Marktwirtschaft skizziert. Aus welchen Quellen haben Sie geschöpft?

Alfred Müller-Armack: Wir standen nach dem Krieg vor der Alternative: Lenkungswirtschaft oder Marktwirtschaft. Es darf angesichts der unleugbar negativen Ergebnisse der Wirtschaftslenkung überraschen, mit welcher Treue und Beständigkeit gleichwohl die öffentliche Meinung am Ideal der Wirtschaftslenkung festhält.

WELT: Zuweilen wird beklagt, Ihr Modell sei nicht fit für das 21. Jahrhundert. Ist eine "Neue Soziale Marktwirtschaft" nötig, wie Angela Merkel sie fordert?

Müller-Armack: Jedes wirtschaftspolitische Programm bedarf nach einer Phase seiner Erprobung einer kritischen Überprüfung. In der zweiten Phase der Sozialen Marktwirtschaft muss diese durch das Leitbild einer neuen Gesellschaftspolitik ergänzt werden.

Erhard: Ich kann nur warnen zu glauben, Politik bestehe darin, sich jeden Tag etwas Neues einfallen zu lassen. Die Soziale Marktwirtschaft brachte die Befreiung unseres Volkes von wirtschaftlicher Not und sozialem Zwang. Das Programm "Wohlstand für alle" wurde Realität. Auch für die Zukunft kann kein dürftiger Pragmatismus eine gewollte Ordnung ersetzen.

WELT: Niemand bestreitet, dass Ihr Modell Deutschland enormen Wohlstand beschert hat. Aber wie sozial ist Ihr Leitbild tatsächlich?

Erhard: In der Marktwirtschaft wird der Begriff "sozial" manchmal so interpretiert, als ob er lediglich einer schamhaften Verbrämung dessen diene, was einmal Kapitalismus bedeutete. Diese Verleumdung hat mich nicht getroffen, ja nicht einmal beschäftigt. Ich möchte anfügen, dass der tiefe Sinn der Sozialen Marktwirtschaft darin liegt, das Prinzip der Freiheit auf dem Markt mit dem des sozialen Ausgleichs und der sittlichen Verantwortung jedes Einzelnen dem Ganzen gegenüber zu verbinden. Je freier die Wirtschaft, umso sozialer ist sie auch.

WELT: Ist also die Verteilungsgerechtigkeit die Achillesferse Ihrer Ordnungspolitik?

Müller-Armack: Das Ziel sozialer Sicherheit ist problematisch genug. Man kann einzelnen Gruppen eine stabile Versorgung zusichern. Solange es sich um einen kleinen Teil des Ganzen handelt, ist es unproblematisch. Eine allen Gruppen zugesagte Lebenssicherung, wie sie die heutige Lenkung mit ihrer Verpfründung der Erwerbschancen herbeizuführen sucht, führt zwangsläufig zum wirtschaftlichen Ruin vieler Schichten.

WELT: Zugleich steigt die Staatsverschuldung bedrohlich weiter - auf mehr als 1,5 Billionen Euro.

Erhard: Die Menschen haben es zwar zuwege gebracht, das Atom zu spalten, aber nimmermehr wird es ihnen gelingen, jenes eherne Gesetz aufzusprengen, das uns verbietet, mehr zu verbrauchen, als wir erzeugen können - oder erzeugen wollen. Entweder ein Staat vergrößert seine Schulden, und das bedeutet in letzter Konsequenz Inflation, oder aber wenn ihm dieser Weg verbaut zu sein scheint, dann werden die Steuern noch einmal erhöht. Der Staat kann nichts tun, kann nichts leisten, was nicht aus der Kraft seiner Bürger fließt.

WELT: Die große Koalition hat gerade eine Krankenversicherungspflicht beschlossen. Ist dies der Königsweg kollektiver Absicherung?

Erhard: Wirtschaftliche Freiheit und totaler Versicherungszwang vertragen sich denn auch wie Feuer und Wasser. Die Entwicklung zum Versorgungsstaat ist daher auch dann schon zu verzeichnen, wenn der staatliche Zwang über den Kreis der Schutzbedürftigen hinausgreift und wenn ihm Personen unterworfen werden, denen der Zwang und die Abhängigkeit wesensfremd ist.

WELT: Was empfehlen Sie?

Erhard: Als Grundsatz muss wieder gelten, dass jeder arbeitende Mensch ohne gnädige Hilfe des Staates und ohne in seine Abhängigkeit zu geraten, seine materielle Existenz und die Versorgung für seine Zukunft aus eigener Kraft und Leistung heraus sicher zu stellen in der Lage sein soll.

WELT: Vermögensbildung in Arbeitnehmerhand ist derzeit en vogue. Warum soll diesmal gelingen, was schon zu Ihrer Zeit scheiterte?

Erhard: Zu einer dynamischen Sozialpolitik gehört die weitere Förderung der Eigentums- und Vermögensbildung in breiten Schichten unseres Volkes, weil sie mehr als alles andere dazu geeignet ist, die Freiheit, Selbstständigkeit und Verantwortlichkeit des Einzelnen in der modernen Gesellschaft zu stützen. Wir können so reich werden, wie wir wollen; wir werden im Grunde genommen immer ärmer, immer unsicherer, immer abhängiger. Zuletzt werden wir dann alle Sozialrentner.

WELT: Den Staat als Nothelfer zu bemühen, läuft meist auf Subventionen hinaus. Eine notwendige Sünde wider die Marktwirtschaft?

Müller-Armack: Gesellschaftspolitik darf sich gewiss nicht im Schutz von Gruppen erschöpfen. Aber es scheint mir mit der Sozialen Marktwirtschaft durchaus verträglich zu sein, wenn Anpassungsinterventionen gewährt werden. Wir müssen notwendige Anpassungen durch Subventionen und Steuererleichterungen bejahen, wenn es auch falsch wäre, gegen die großen Tendenzen des Marktes anzugehen.

WELT: Das sehen Sie sicher anders, Professor Erhard?

Erhard: Die Durchführung einer straffen Haushaltspolitik wird nicht möglich sein, ohne lieb gewonnene Vorstellungen und Tabus der Vergangenheit aufzugeben. Ich meine konkret den Abbau öffentlicher Subventionen, die Überprüfung steuerlicher Begünstigungen und den Verzicht auf Staatsausgaben, deren innere Berechtigung fragwürdig geworden ist.

WELT: Arbeit gilt als zentrale Herausforderung der Wirtschaftspolitik. Sehen Sie Lösungen?

Erhard: Ich begann meinen beruflichen Werdegang als kaufmännischer Lehrling ohne Pensionsberechtigung und hatte auch nicht das Gefühl, dass eine Sechs-Tage-Woche mit 60-stündiger Arbeitszeit meine Gesundheit erschüttern könnte oder ein unerträgliches soziales Los bedeutete.

WELT: Gehört zur Marktwirtschaft auch die Versöhnung von Ökonomie und Ökologie?

Müller-Armack: Neben der Stabilität der Währung, die eminent wichtig ist, sind es die Probleme der Umweltbedingungen. Dazu gehört die schon in Angriff genommene, aber sicher in Zukunft mit viel größerer Intensität weiterzuführende Aufgabe der Reinhaltung der Luft und des Wassers. Daneben stellt sich das Problem der sozialen Umwelt. Die Jahre des Wiederaufbaus waren zu sehr von dem Ziel des Produktionsaufbaus bestimmt, als dass man die Konsequenzen der damit entstandenen chaotischen Umweltstruktur bedacht hätte.

WELT: Stichwort Europa: Hier herrscht Frust über die versäumte Integration und Bürokratismus.

Erhard: Die beste Integration Europas, die ich mir vorstellen kann, beruht nicht auf der Schaffung neuer Abgaben, Ämter und Verwaltungsformen oder wachsender Bürokratien, sondern sie beruht in erster Linie auf der Wiederherstellung einer freizügigen internationalen Ordnung. Soweit alle Bemühungen, zur Integration Europas zu gelangen, überhaupt auf einen Nenner gebracht werden können, so auf den: Verwirklicht die Freiheit in allen Lebensbereichen!

WELT: Was heißt das konkret?

Erhard: Es handelt sich darum, Protektionismus, Mengenbeschränkungen und Zollmauern abzubauen und jenes engstirnige Denken zu überwinden, welches das Leben in Europa zu einer Qual werden ließ. Mit dieser Schrebergarten-Ideologie muss schnell und gründlich aufgeräumt werden. Unser unablässiges und auch durch Rückschläge nicht zu entmutigendes Streben nach wirtschaftlicher und politischer Einigung beschränkt sich deshalb nicht etwa auf einen bestimmten Teil Europas. Es schließt, auch wenn wir nur schrittweise vorankommen, das ganze Europa ein.

WELT: Wenn Sie, Herr Professor Erhard, einen Wunsch frei hätten...

Erhard: Wenn ich einen Wunsch frei hätte, dann wäre es der, dass die Zivilcourage wieder als ein Wert anerkannt wird, für den es sich zu leben lohnt.

REDAKTIONELLER HINWEIS: Dieses fiktive Gespräch stellte Dr. Peter Gillies aus Zitaten Erhards und Müller-Armacks zusammen. Wir danken Herrn Gillies für die freundliche Genehmigung.