Deutschland braucht Reformen. Dazu rufen Wolfgang Clement, ehemaliger Bundesminister für Wirtschaft und Arbeit und aktuell Kuratoriumsvorsitzender der INSM und Martin Kannegiesser, Ehrenpräsident von Gesamtmetall und Beiratsvorsitzender der INSM in einem Artikel in der FAZ vom 31. August 2013 auf. "Nur wenn wir jetzt eine vorausschauende, an den Prinzipien der Sozialen Marktwirtschaft orientierte Reformpolitik in die Wege leiten, können wir auch 2020 und danach weiter in einem wettbewerbsfähigen und gerechten Deutschland leben."
31. August 2013
Das britische Wirtschaftsmagazin „The Economist“ bezeichnete Deutschland kürzlich als das „Kraftwerk des Kontinents“. Die moderne Bundesrepublik ist mit innovativen Industrieprodukten und Dienstleistungen international hochgradig wettbewerbsfähig. Die Erfolge sind offensichtlich: Seit 2005 sind 2,6 Millionen zusätzliche Arbeitsplätze entstanden. Die Zahl der geleisteten Arbeitsstunden ist im gleichen Zeitraum um über vier Prozent gestiegen. Die Erwerbstätigenquote ist eine der höchsten, die Jugendarbeitslosigkeit die niedrigste in der EU. Diese Erfolge können wir heute mit Stolz betrachten, weil Deutschland vor wenigen Jahren verkrustete Strukturen aufgebrochen und einen konsequenten marktwirtschaftlichen Reformkurs eingeschlagen hatte.
Es ist nicht lange her, dass die Bundesrepublik als „kranker Mann Europas“ galt, der an der eigenen Reformunfähigkeit verzweifelte. Erst die gemeinsamen Anstrengungen in den letzten zwei Jahrzehnten von Politik, Unternehmen, Bürgern und Tarifparteien konnten den Reformstau lösen und die Wettbewerbsfähigkeit wiederherstellen. Neben einer beschäftigungsorientierten Lohnpolitik der Sozialpartner war die Flexibilisierung des Arbeitsmarkts ein zentraler Erfolgsfaktor. Diese Reformen dürfen wir weder zurückdrehen noch verwässern. Der Ordnungsrahmen einer im Wesentlichen funktionierenden Sozialen Marktwirtschaft mit Ihren dezentralen schnellen Entscheidungsprozessen, einem freien wettbewerblichen und damit dynamischen Unternehmertum schaffte die Grundlage für die wirtschaftliche Stärke und soziale Sicherheit von heute.
Dass dies kein Anlass für Selbstzufriedenheit und politische Passivität sein darf, zeigt der Blick in die Zukunft: Die Altersstruktur in Deutschland wandelt sich grundlegend, mit dramatischen Folgen. Bereits 2030 wird etwa jeder Dritte älter als 65 Jahre sein. Eine sich beschleunigende Technologisierung und neue intensive Wettbewerbsstrukturen in der Welt fordern uns heraus: Wir müssen uns künftig mehr denn je gegenüber jungen, aufstrebenden Volkswirtschaften behaupten. Deutschland kann Reformen, das ist bewiesen. Doch diesmal muss die Politik rechtzeitig die Weichen für die neuen Herausforderungen stellen, damit nicht wieder Nullwachstum und Rekordarbeitslosigkeit die Agenda bestimmen.
Arbeit ist und bleibt die Grundlage unseres Wohlstands“. Dieser Satz von Ludwig Erhard gilt auch in Zukunft. Nur ein leistungsstarkes Deutschland kann auch den Schwachen helfen. Die beste Sozialpolitik ist jene, die allen Menschen die Teilhabe am gesellschaftlichen und produktiven Leben ermöglicht.
Ein flexibler Arbeitsmarkt, Bildung und Weiterbildung sind dafür die wichtigsten Voraussetzungen. Nur so ist sicher zu stellen, dass sich Menschen unabhängig von ihrem sozialen Hintergrund Teilhabe- und Karrierechancen eröffnen.So entsteht Vollbeschäftigung. Denn tatsächlich wird jeder benötigt, um den Fachkräftemangel zu beseitigen: Mütter, Ältere oder Menschen mit Migrationshintergrund. Wir brauchen daher mehr und bessere Betreuungsmöglichkeiten für Kinder, um jungen Müttern den Wiedereinstieg ins Berufsleben zur erleichtern.
Wissen und Fortschritt schaffen neue Jobs und Wohlstand. Deutschland hat die besten Voraussetzungen, um Maßstäbe zu setzen: innovative Unternehmen, gute Forschungseinrichtungen und vor allem neugierige, leistungsbereite Menschen. Diese brauchen aber das nötige Know-how für ihre künftigen Aufgaben. Leider bleiben heute zu viele junge Talente noch ungenutzt – vor allem aus bildungsfernen Haushalten. Fast 15 Prozent der Bevölkerung bleiben ohne berufliche Qualifikation. Dies dürfen wir nicht länger zulassen: Frühkindliche Bildung ist der zentrale Schlüssel für die Chancen in der Wissensgesellschaft. Der Staat muss mehr für vorsorgende Bildungs- statt nachsorgende Sozialpolitik tun und so allen die gleichen Aufstiegs- und Karrierechancen eröffnen.
Deutschland gibt jeden achten Euro seiner Steuereinnahmen für Zinsen aus. Das Geld fehlt Bund, Ländern und Gemeinden, um ihre eigentlichen Aufgaben zu erfüllen. Gerechtigkeit zwischen den Generationen herrscht nur dann, wenn Deutschland seine Neuverschuldung stoppt, seine Altschulden abbaut und in seine Zukunft investiert. Haushaltskonsolidierung muss Priorität haben.
Angesichts immer neuer Rekordeinnahmen der öffentlichen Hände brauchen wir keine höheren Steuern, sondern eine effiziente Ausgabenpolitik und ebenso ein transparentes Steuersystem. Politik muss die Ausgabenprioritäten neu ordnen. Statt staatlicher Konsumausgaben brauchen wir mehr Investitionen, die uns langfristigen Nutzen bringen. Das Steuersystem muss drastisch vereinfacht werden. Der Staat muss den Bürgern so viel wie möglich von ihrem erarbeiteten Einkommen lassen.
Der Staat ist im Verständnis der Sozialen Marktwirtschaft nicht der Vormund seiner Bürgerinnen und Bürger.
Unser Sozialversicherungssystem ist eine Erfolgsgeschichte. Es sorgt dafür, dass jeder, der in Deutschland in Not gerät, abgesichert ist. Der demografische Wandel stellt aber die gegenwärtige Finanzierung des Systems in Frage: Heute müssen 100 Beitragszahler 60 Rentner finanzieren, 2030 wahrscheinlich schon 100. Immer weniger Beitragszahler müssen immer höhere Ausgaben schultern. Wir müssen deshalb die Finanzierung der Sozialleistungen an die demografische Entwicklung anpassen, da sonst die Lohnnebenkosten die junge Generation überfordern und die Arbeit zu teuer machen – zu Lasten der Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands.
Wenn wir jetzt eine vorausschauende, an den Prinzipien der Sozialen Marktwirtschaft orientierte Reformpolitik in die Wege leiten, können wir auch 2020 und danach weiter in einem wettbewerbsfähigen und gerechten Deutschland leben.