Soziale Marktwirtschaft
Über Wolfgang Clement

Marathon Man

Namensbeitrag von Peer Steinbrück aus der Festschrift zum 80 Jährigen Geburtstag von Wolfgang Clement.

„Herr, gib mir Geduld, aber bitte gleich.“ Dieses Stoßgebet beschreibt den Mann ziemlich treffend. Wolfgang Clement steht in dem Ruf eines Machers. Manche sehen in ihm einen kühlen Pragmatiker ohne grundsätzliche Überzeugungen – also in der Sprache der Gesinnungsethiker jemand ohne ideelle Kompassweisung, möglichst links korrekt gestrickt. Erstens ist das nicht richtig und zweitens ist ihm eine solche Zuschreibung sowieso egal.

Wolfgang Clement kommt es nicht auf das gut Gemeinte, sondern auf das gut Gemachte, auf das konkret Bewirkende an.

Sein Anspruch ist eine gestaltende Politik aus einer Regierungsverantwortung, um die sozialen und wirtschaftlichen Verhältnisse schrittweise im Sinne von Wohlstand, gesellschaftlichem Zusammenhang und äußerem Frieden zum Besseren zu verändern. Für ihn war immer konkretes Handeln angesagt, wohingegen man bei der Umsetzung eines grandiosen, aber wirklichkeitsfremden Entwurfes stecken zu bleiben droht und meist Vetomächte auf den Plan ruft, die jeden tatsächlichen Fortschritt zu blockieren wissen. In seinem Temperament würde er den Ausspruch eines US-Admirals „Think, think – that’s all you guys can do. When do you get off your ass and do something“ weder dem Sinn noch der Wortwahl nach zurückweisen.

Aufgewachsen in Bochum und mental ganz und gar ein Produkt des Ruhrpotts war Clement als Chef der Staatskanzlei, Landeswirtschaftsminister und Ministerpräsident früh klar, dass ein Verharren dieser Region in der Struktur der Montanindustrie (plus einer Reihe weiterer klassischer Industrieunternehmen) sowie ein nicht seltener Strukturkonservatismus nicht zuletzt im sozialdemokratischen und gewerkschaftlichen Milieu, der über Generationen von Großkonzernen, ihren Hierarchien und kommunalen Vernetzungen und weniger von mittelständischen innovativen Unternehmen geprägt wurde, keine gute Zukunft verspricht.

Also setzte er auf Impulse durch die Förderung von technologieintensiven Unternehmen, die Zusammenarbeit von Wirtschaft und Hochschulen sowie Wissenschaftseinrichtungen, die Befähigung zum Wandel und – ja doch – auch den Versuch, Leuchttürme zu errichten und Symbole zu schaffen. Viel Zeit zum Abwarten in einer globalisierten Welt mit dem Auf- und Abstieg von Regionen sah er nicht.

Das galt für ihn als Bundesminister für Wirtschaft und Arbeit nicht weniger für ganz Deutschland und erstreckte sich nicht zuletzt auf sein Drängen, die Arbeitsverwaltung zu reformieren und den Sozialstaat demografiefest zu machen. Daher die Ungeduld. Seine Logik, dass erst das Produkt durch eine wettbewerbsfähige Wirtschaft geschaffen werden muss, das anschließend verteilt werden kann, ist bis heute banal, aber offenbar schwer zu lernen. Manchmal setzte er allerdings auch auf ein Pferd, das erkennbar nie ins Ziel gekommen wäre, und vergaß, rechtzeitig abzusteigen.

In seiner Entwicklung als Journalist, Sprecher der SPD in unmittelbarer Nähe von Willy Brandt, seiner Freundschaft mit Johannes Rau, die zwei denkbar verschiedene, sich aber kongenial ergänzende Charaktere zusammenführte, und schließlich als Minister und Ministerpräsident gab es für Wolfgang Clement nur eine politische Heimat: die SPD. Im Kern ist er Sozialdemokrat selbst nach seinem Parteiaustritt geblieben. Allerdings hat er nach seinem Verständnis nicht die SPD verlassen, sondern sie ihn. Richtig ist, dass er dem Gesang eines parteiverträglichen Kodex entsagte, sozialdemokratischen Gewissheiten, die einen Wirklichkeitstest nicht bestanden, widersprach und Urteilsfähigkeit ebenso wie Sachverstand auch außerhalb einer sozialdemokratischen Wagenburg nicht nur vermutete, sondern anerkannte.

In seinen Augen dürfte eines der größten Versäumnisse der SPD seit Beginn des 20. Jahrhunderts gewesen sein, dass sie den Begriff der Liberalität nicht aufgegriffen hat, was sie weit ins aufgeklärte bürgerliche Lager und eine unternehmende Unternehmerschaft anschlussfähig gemacht hätte. Stattdessen überließ sie diesen Begriff anderen und gab ihn unter dem Zusatz „neoliberal“ einer Diskreditierung preis.

Seine gelegentlich robusten Umgangsformen, die manche auch als brüsk empfanden, ehe sie sich mit der zunehmenden Enkelschar seines Clans abschliffen, wurden kompensiert von der Liebenswürdigkeit seiner Frau Karin. Das war nicht selten sein Glück und es ist gut möglich, dass ihm nicht immer bewusst war, wie er mit diesem virtuellen (!) Pfund an seiner Seite wucherte.

Tatsächlich verbirgt sich hinter seiner Fassade – eher Beton als Barock – zum einen ein feiner Humor und ein erfrischender Sinn für Ironie. Jenseits öffentlicher Bühnen kann man gut mit ihm lachen und sich herrlich die Zähne über abwesende Dritte langziehen. Zum anderen verbirgt sich hinter seiner Fassade eine Empfindlichkeit, die Wolfgang Clement selbst Freunden gegenüber nie zugeben würde. Die Geringschätzung seiner Arbeit und seines Einsatzes, die sich in einem schlechten Ergebnis bei den Wahlen zum Parteivorstand der SPD ausdrückte, während die Herolde einer makellosen sozialdemokratischen Gesinnung belohnt wurden, verletzte ihn tief. Mit dieser Erfahrung steht er bis in die jüngste Zeit zwar nicht allein, was mehr über die Partei als über die Betroffenen aussagt. Aber trösten tut das auch nicht. Ebenso hinterließen die sich hinziehenden Pirouetten bei der Nachfolgeregelung von Johannes Rau im Amt des nordrhein-westfälischen Ministerpräsidenten Spuren in seinem Seelenleben. Das galt noch viel mehr für die Art und den Stil, wie er von seiner „Kündigung“ als Bundesminister 2005 mit Bildung der großen Koalition erfuhr. Dabei hatte er sich nach der Bundestagswahl 2002 gegen seine Präferenz, Ministerpräsident in Nordrhein-Westfalen bleiben zu wollen, und für die Loyalität gegenüber der Bundesebene entschieden und sich mit der Gründung des Superministeriums für Wirtschaft und Arbeit breitschlagen lassen. Über die politische Vernunft dieser Konstruktion muss man heute nicht mehr streiten.

Wolfgang Clement und ich führten in seiner Zeit als Chef der Düsseldorfer Staatskanzlei und meiner Zeit als Büroleiter von Ministerpräsident Johannes Rau solange eine „Wochenehe“, wie seine Familie damals noch nicht von Hamburg zurück nach Nordrhein-Westfalen gezogen war. Soweit uns auswärtige Termine nicht daran hinderten, arbeiteten wir bis 23 Uhr an unserem jeweiligen Schreibtisch, gingen dann für ein oder vielleicht auch zwei Altbiere in die Düsseldorfer Altstadt und verschwanden danach in Gästezimmern, die es im damaligen Haus des Ministerpräsidenten – der Villa Horion – gab. Es gab einen Unterschied: Ich fiel ins Bett, während Wolfgang Clement bis tief in die Nacht noch Akten bearbeitete. Er stand dann morgens um 7 Uhr oder eher auf, joggte am Rhein und eröffnete spätestens um 9 Uhr die tägliche Lage mit ausgesuchten Mitarbeitern in der sogenannten „Grünen Hölle“ – einem runden Raum im Haus des Ministerpräsidenten, der den Charme der 50er-Jahre versprühte mit einer Wandbespannung, deren Farbe nur im Spitznamen des Sitzungsraumes überdauert hatte.

Drei Eindrücke blieben haften. Der Mann hatte einen sensationell geringen Schlafbedarf und arbeite wie jemand unter Tage. Er überwand jeden Morgen den inneren Schweinehund und ging auf die Piste, was zur Teilnahme an Marathonläufen führen sollte. Und er redete keine Girlanden, sondern bevorzugte eine stringente Gesprächsführung. Als er mich 1998 fragte, ob ich von Schleswig-Holstein zurück nach Nordrhein-Westfalen als Wirtschafts- und Verkehrsminister kommen wolle, bat ich um eine Sekunde Bedenkzeit.

Nicht ein Double von Wolfgang Clement, dafür haben sich die Umstände in den letzten 15 Jahren zu stark verändert, aber vom Kaliber Wolfgang Clement hätte ich heute gern mehr Persönlichkeiten in der deutschen Politik. Ich wünsche ihm die Kraft für einen weiteren Marathon.

 

Peer Steinbrück

Wirtschaftsminister in Schleswig-Holstein (1993–1998)
NRW-Wirtschaftsminister (1998–2000)
NRW-Finanzminister (2000–2002)
Ministerpräsident in NRW (2002–2005)
Bundesfinanzminister (2005–2009)
Kanzlerkandidat der SPD (2013)