Regierungspolitik im Deutschland-Check
Politikbewertung von INSM und WiWo

Deutschland-Check Oktober 2011

Im Deutschland Check Oktober 2011 von INSM und WiWo bewerten Wissenschaftler des IW Köln die "Erweiterung der Europäischen Finanzstabilisierungsfazilität sowie den "Regierungsdialog Rente". In einer Umfrage durch die IW-Consult wurden Wirtschaftswissenschaftler nach ihrer Meinung zu den diskutierten Maßnahmen zur Stabilisierung der Euro-Zone befragt. 

22. Oktober 2011

Wirtschaftsentwicklung: Auf schwankendem Grund
Die Unsicherheit über die weitere wirtschaftliche Entwicklung hat im September 2011 weiter zugenommen. Für Unruhe und Sand im Getriebe sorgen vor allem die immer neuen Hiobsbotschaften von der europäischen Staatsschuldenfront und vom Finanzmarkt. Die europäischen Regierungschefs tun sich mit einer Lösung der Schuldenkrise erkennbar schwer, was die Finanzmärkte nicht zur Ruhe kommen lässt. Die Ratingagenturen stuften die Bonität hochverschuldeter Euro-Länder zurück, was ebenfalls die Nervosität an den Finanzmärkten anheizte. Schon ist die Rede von einer neuerlichen Bankenkrise und der Notwendigkeit einer Rekapitalisierung europäischer Banken.

Ohne diese Zuspitzung der Krise an den Finanzmärkten - so das Institut der deutschen Wirtschaft Köln in seiner im September vorgelegten Konjunkturprognose - wäre die schwache Entwicklung der deutschen Volkswirtschaft im ersten Quartal 2011als ein „zyklisches Luftholen im Aufschwung“ interpretiert worden und nicht als Warnung vor einer Trendwende der Konjunktur. Jetzt sei die Sorge verbreitet, „dass der Konjunktur die Luft ausgeht“. Keine Frage: Die Konjunkturentwicklung steht auf schwankendem Grund. Gleichwohl sind aufkommende Rezessionsängste übertrieben. Zwar wird sich das Wirtschaftswachstum in Deutschland eintrüben, aber die deutsche Volkswirtschaft wird mit weiter, wenn auch mit abgeschwächtem Tempo, auf Wachstumskurs bleiben. Das IW Köln erwartet für dieses Jahr noch ein jahresdurchschnittliches Wachstum des realen Bruttoinlandsprodukts von knapp 3 Prozent, im nächsten Jahr sollen es dann noch 1 ¼ Prozent sein. Das Expansionstempo läge dann in etwa auf dem Durschnitt der Euroländer, aber einen halben Prozentpunkt unter dem Industrieländerdurchschnitt. Deutschland wäre dann nicht mehr die Wachstumslokomotive in Europa.

Eigentlich spricht die gute Arbeitsmarkt- und Einkommensentwicklung in diesem Jahr für einen starken privaten Konsum als Wachstumstreiber. Und die hohen Auslastungsgrade der Produktionskapazitäten lassen für sich genommen eine Investitionstätigkeit der Unternehmen auf hohem Niveau erwarten. Aber die Marktakteure sind derzeit verunsichert und agieren deshalb entsprechend vorsichtig. Hier liegt somit noch ungenutztes Wachstumspotenzial. Es kann sich Bahn brechen, wenn es der Politik bald gelänge, durch eine überzeugende Lösung der Schuldenkrise die Verunsicherung aus den Märkten zu nehmen. Die leicht angezogene Konjunktur-Handbremse zeigt auch Wirkung auf den Wachstumsindex, der nach dem katastrophalen Absturz im August auch im September nachgegeben hat. Nicht so der Arbeitsmarktindex, der auch im September seinen beeindruckenden Aufwärtstrend fortgesetzt hat.

Die September-Ergebnisse im Einzelnen:

Kein neues Bild beim Arbeitsmarktindex. Auch im September wird er von beiden Subindikatoren getrieben:

  • Im September ging die um Saisoneffekte bereinigte Zahl der Arbeitslosen um 26.000 Personen auf nunmehr 2,922 Millionen zurück. Der Rückgang hat sich damit gegenüber den Vormonaten sogar wieder beschleunigt. Letztmals im April dieses Jahres war der Rückgang mit 33.000 Personen kräftiger ausgefallen.
  • Auch die Arbeitskräftenachfrage der Unternehmen bestätigte im September den Aufwärtstrend. Saisonbereinigt stieg die Zahl der gemeldeten offenen Stellen um 7.000 an – und damit leicht schneller als im Vormonat (+6.000 Stellen). Auch hier muss man bis in den April zurück blicken, um einen stärken Monatsanstieg zu finden.
  • Insgesamt legte der Arbeitsmarktindex im September um kräftige 1,2 Prozent zu und weist damit ein gegenüber den Vormonaten beschleunigten Anstieg aus.

Damit ist klar, dass der Arbeitsmarktindex auch im September auf Vollbeschäftigungskurs geblieben ist. In den letzten Monaten hatte er sich auf den unteren Trichterrand zubewegt; jetzt hat er sogar wieder etwas Abstand gewonnen und platziert sich in etwa in der Mitte des Vollbeschäftigungskorridors.

Der Wachstumsindex konnte den freien Fall aus dem Monat August im September nur abschwächen, aber nicht gänzlich stoppen. Wie schon im Vormonat haben auch im September alle drei Subindikatoren zu dieser negativen Entwicklung beigetragen:

  • Die Nervosität an den Finanzmärkten drückte den DAX-Performance-Index auch im September ins Minus. Im Laufe des Monats verlor er weitere 283 Punkte oder 4,9 Prozent. Immerhin verlangsamte sich der Absturz – im August hatte der Index noch 19,2 Prozent an Boden verloren.
  • Der Ifo-Lage-Index der gewerblichen Wirtschaft büßte im September 0,2 Prozent ein, deutlich weniger als noch im August, als ein Minus von 2,6 Prozent zu Buche schlug. Aber bedenklich stimmt, dass es nunmehr den dritten Monat in Folge nachgegeben hat. Während sich im Groß- und Einzelhandel die Lageeinschätzung verbessert hat, gaben die Beurteilungen durch die Industrieunternehmen weiter nach. Weitere Eintrübungen in den kommenden Monaten sind wahrscheinlich, denn die Erwartungen der Unternehmen für die nächsten sechs Monate tendieren mehrheitlich nach unten.
  • Die Industrieproduktion war im August saisonbereinigt um ein Prozent rückläufig. Auf im September dürfte die Industrieproduktion um gut 1 Prozent nachgegeben haben. Im Juli hatte sie noch einen fulminanten Anstieg von 4,2 Prozent zu verzeichnen. Die Statistiker gehen davon aus, dass diese starken Temposchwankungen und der aktuelle Rückgang der Produktion durch einen Ferientageeffekt, den die Saisonbereinigung nicht gänzlich ausgleichen kann, überzeichnet sind. Gesunken ist die Produktion bei den Vorleistungs- sowie den Konsumgüterproduzenten, während die Investitionsgüterproduzenten ihre Produktion sogar leicht ausweiten konnten.
  • Insgesamt büßte der Wachstumsindex im September 2,5 Prozent ein. Er tendiert damit dreimal in Folge negativ und liegt derzeit wieder auf dem Niveau von August 2010.

Was ist geplant?
Es geht um die Umsetzung der Beschlüsse mehrere Gipfeltreffen der Staats- und Regierungschefs der Eurozone im Jahr 2011, die die Europäische Finanzstabilisierungsfazilität (EFSF) – vulgo Euro-Rettungsschirm - handlungsfähiger machen sollen. Diese Beschlüsse bedürfen der parlamentarischen Ratifizierung in den Eurostaaten. Es geht in erster Linie um folgende Aspekte:

1) Finanzielle Aufstockung des Garantierahmens
Das Bundesfinanzministerium wird vom Deutschen Bundestag ermächtigt, Gewährleistungen bis zur Höhe von rund 211 Milliarden Euro für Finanzierungsgeschäfte der EFSF im Rahmen von so genannten Notmaßnahmen zu übernehmen, die unter bestimmten Umständen zum Erhalt der Zahlungsfähigkeit eines Euro-Mitgliedsstaates getroffen werden können. Bislang lag die maximale Gewährleistung gemäß StabMechG vom 22. Mai 2010 bei maximal 123 Milliarden Euro. Der Gewährleistungsrahmen kann wie bisher um bis zu 20 Prozent überschritten werden.

2) Schaffung zusätzlicher Instrumente 
Die EFSF konnte als Notmaßnahme bislang lediglich Darlehen direkt an betroffene Euro-Mitgliedsstaaten zur laufenden Haushaltsfinanzierung und für den laufenden Schuldendienst - und damit zum Erhalt seiner Zahlungsfähigkeit vergeben. Nun sind auch Darlehen an Mitgliedsstaaten zur Rekapitalisierung von dort ansässigen Finanzinstituten, vorsorgliche Maßnahmen (etwa Darlehensbereitstellungen ohne Auszahlung) sowie Ankäufe von Staatsanleihen des Mitgliedsstaates am Primär- und Sekundärmarkt möglich – letzteres aber nur bei Vorliegen außergewöhnlicher Umstände, die von der EZB festzustellen sind.

3) Bindung der Notmaßnahmen an Wahrung der Stabilität des Euro-Währungsgebietes sowie an Auflagen
Notmaßnahmen können auf Antrag eines Euro-Mitgliedsstaates ergriffen werden, wenn dies unabdingbar ist, um die Stabilität des Euro-Währungsgebietes insgesamt zu wahren. Auch die neuen Hilfen sind an strenge Auflagen gebunden – also grundsätzlich an ein wirtschafts- und finanzpolitisches Reformprogramm.

4) Beteiligung des Deutschen Bundestages
Neu gefasst wurden die Beteiligungsrechte des Deutschen Bundestages. Bislang musste sich die Bundesregierung lediglich darum bemühen, vor der Übernahme von Gewährleistungen im Rahmen der EFSF Einvernehmen mit dem Haushaltsausschuss des Deutschen Bundestages herzustellen. Nun ist die explizite Zustimmung des Deutschen Bundestages zu Beschlussvorschlägen nötig, die seine haushaltspolitische Gesamtverantwortung berühren. Wichtigen organisatorischen oder operationellen Beschlüssen im Rahmen der EFSF muss daneben der Haushaltsausschuss zustimmen. Ohne diese Zustimmung darf die Bundesregierung in Brüssel nur mit Nein stimmen. Bei besonderer Eilbedürftigkeit und Vertraulichkeit nimmt ein Untergremium des Haushaltsausschusses die Beteiligungsrechte des Deutschen Bundestages wahr.

Bewertung durch das IW Köln: 5 von 5 Sternen

Begründung:

  • Der Beschluss des Deutschen Bundestages ist uneingeschränkt zu begrüßen.
  • Die finanzielle Erweiterung des Euro-Rettungsschirms ermöglicht es erst, unter den von den Ratingagenturen vorgegebenen Finanzierungsbedingungen, das im Mai 2010 avisierte volle Volumen von rund 440 Milliarden Euro für die EFSF bereitzustellen. Insgesamt stehen zusammen mit dem EFSM und dem IWF bei Inkrafttreten der Neuerungen nun wirklich 750 Milliarden Euro zur Verfügung. Darüber hinaus macht die Erweiterung des Instrumentariums eine höhere Finanzkraft der EFSF nötig.
  • Die Schaffung zusätzlicher Instrumente dient vor allem der Eingrenzung von Ansteckungseffekten am Finanzmarkt, die die Finanzstabilität der Eurozone bedrohen und beispielsweise durch einen Schuldenschnitt in Griechenland ausgelöst werden könnten. Die EFSF kann in Zukunft davon betroffenen Banken in Ländern helfen, die noch kein Hilfspaket erhalten haben, und so die Gefahr von Bankenkrisen mit möglichen Dominoeffekten im Bankensystem der Eurozone mindern. Darüber hinaus sollen vorsorgliche Maßnahmen (etwa Darlehensbereitstellungen) den Finanzmarktakteuren die Sorge nehmen, dass ein Land zahlungsunfähig werden könnte. Schließlich können Aufkäufe am Primär- und Sekundärmarkt dazu beitragen, dass ein eigentlich liquider Staat nicht aufgrund von Überreaktionen des Finanzmarkts mit immer weiter steigenden Zinsen in die Zahlungsunfähigkeit getrieben wird.
  • Es ist richtig und sehr wichtig, dass auch die neuen Instrumente nur unter strengen Auflagen gewährt werden. Denn die Hilfsmaßnahmen der EFSF dürfen nicht dazu verleiten, fiskalisch lax zu wirtschaften, in der Hoffnung darauf, bei einer Zuspitzung am Finanzmarkt von der EFSF gerettet zu werden. Die bisherigen Erfahrungen mit den IWF/EU-Anpassungsprogrammen und mit der Überwachung durch die Troika (gemeinsam mit der EZB) bauen dieser Sorge effektiv vor. Ein solches Reformprogramm, das als Eingeständnis des Versagens interpretiert wird und de facto mit einem partiellen Souveränitätsverlust verbunden ist, hat somit eine hohe abschreckende Wirkung. Dies muss auch weiterhin gewährleistet bleiben. Allerdings sind die Details der Konditionalität der neuen Instrumente noch nicht endgültig in Brüssel ausgehandelt, was dem Bundestag allerdings nicht anzulasten ist und daher auch keinen Abschlag bei der Bewertung mit sich bringt. Die klare deutsche Positionierung durch den Bundestagsbeschluss stärkt der Bundesregierung den Rücken, hier auch gegen mögliche Widerstände hart zu bleiben. Auch die Bindung des Einsatzes der neuen Instrumente an die Wahrung der Stabilität der Eurozone ist sinnvoll, damit Staaten sich nicht auf Hilfe bei isolierten Krisen verlassen können.
  • Die deutliche Erweiterung der Beteiligung des Deutschen Bundestages ist anlässlich der finanziellen Tragweite der Beschlüsse im Rahmen der EFSF unabdingbar. Das hat auch das Bundesverfassungsgericht mit seinem jüngsten Urteil in dieser Sache deutlich gemacht. Die Abstufung der Zustimmungsnotwendigkeit erscheint angemessen. Gleiches gilt für das Mandat, das ein Untergremium des Haushaltsausschuss besonders dringliche und vertrauliche Angelegenheiten wahrnimmt. Denn damit ist ein vernünftiger Kompromiss zwischen Beteiligungsrechten einerseits sowie Handlungsfähigkeit der EFSF andererseits erreicht.  

Was ist geplant?
Die Bundesarbeitsministerin hat Anfang September einen Dialog mit Fachpolitikern, Vertretern der Rentenversicherung, Gewerkschaften und Arbeitgebern begonnen, um Entwicklungen in der Arbeitswelt und gesellschaftliche Veränderungen darauf hin zu untersuchen, ob und welche Risiken diese für eine mögliche Bedürftigkeit im Alter bergen. Geplant ist, nach der Diskussion im Herbst 2011 das Gesetzgebungsverfahren bis zur Sommerpause 2012 abzuschließen; mögliche rechtliche Änderungen sollen dann zum 1.1.2013 in Kraft treten.

Die Bundesarbeitsministerin ist mit drei konkreten Vorschlägen in die Diskussion eingestiegen:

1. Zuschuss-Rente. Unter der Vorgabe, die Rente solle Lohn für Lebensleistung sein, wird eine Aufstockung von gesetzlichen Rentenansprüchen angestrebt, die bislang unter dem Niveau der bisherigen Grundsicherungsleistungen von etwa 685 Euro pro Monat bleiben. Angepeilt ist ein Niveau von 850 Euro. Diese Aufstockung soll aber nur für jene Personen gelten, die tatsächlich ein Leben lang gearbeitet haben, und ist deshalb an strenge Vorgaben gebunden: Ab 2023 kommen nur jene Personen in den Genuss einer Zuschuss-Rente, die 45 Jahre Versicherungszeiten nachweisen können und davon 35 Jahre Beiträge gezahlt sowie zusätzlich privat vorgesorgt haben („Riester-Rente“). Während der Einführungsphase bis 2023 gelten etwas geringere Schwellenwerte.

2. Verbesserte Erwerbsminderungsrente. Die Regelungen der Erwerbsminderungsrente werden an die „Rente mit 67“ angepasst. Bislang werden für die Spanne vom Eintritt des Erwerbsminderungsfalls bis zum 60. Lebensjahr Zurechnungszeiten berücksichtigt. Diese sind ausschlaggebend für die Festlegung der Altersrente, die ab dem 60. Lebensjahr gezahlt werden. Analog zur Anhebung der regulären Altersgrenze auf 67 Jahre soll auch bei der Berechnung der Zurechnungszeiten die Altersgrenze analog von 60 auf 62 Jahre steigen.

3. Kombirente. Bei vorzeitigem Bezug einer Teilrente (ab einem Alter von 63 Jahren bis zum jeweils geltenden gesetzlichen Rentenalter) gelten bislang starre und sehr kompliziert zu ermittelnde Hinzuverdienstgrenzen. Zukünftig sollen Versicherte ab dem 64. Lebensjahr eine vorzeitige Teilrente mit den entsprechenden gesetzlichen Abzügen und ihren Hinzuverdienst frei wählen können, wobei der Hinzuverdienst das zuletzt erzielte Bruttoeinkommen nicht überschreiten darf.

Bewertung durch das IW Köln: 3 von 5 Sternen

Begründung:

1. Zuschuss-Rente mit Konstruktionsfehlern:

  • Die Aussage, Rente solle Lohn für Lebensleistung sein, suggeriert einen Zusammenhang, der im Rentenrecht nicht realisiert wird. In der gesetzlichen Rentenversicherung gilt das Prinzip der beitragsbezogenen Rente. Demnach errechnet sich der individuelle Rentenanspruch aus Höhe und Dauer der Beitragszahlungen. Allerdings determinieren diese Faktoren nur die Rentenhöhe in Relation zu anderen Versicherten, die weniger oder mehr Beitragszeiten oder Beitragszahlungen aufweisen. Ein Rentenanspruch in absoluten Zahlen lässt sich im Umlageverfahren nicht begründen. Deshalb stellt bereits die Zielstellung, Rente als Lohn für Lebensleistung, ein versicherungsfremdes Element dar.
  • Daraus ergibt sich als erste und zwingende Forderung, dass die Finanzierung der Zuschuss-Rente aus Steuermitteln erfolgen muss und nicht zu Lasten des Beitragszahlers gehen darf. Auch wenn anfänglich nur mit sehr geringen Fallzahlen zu rechnen ist, kann sich die Zahl der Anspruchsberechtigten nach Einschätzung des Bundesarbeitsministeriums bis 2030 auf über eine Millionen erhöhen und damit die finanzielle Belastung ab 2030 auf bis zu 2,5 Milliarden Euro pro Jahr steigen. Bislang spricht sich deshalb die Bundesarbeitsministerin für eine Steuerfinanzierung aus. Daran sollte sie unbedingt festhalten.
  • Selbst wenn man das Ziel einer besonderen Absicherung lebenslanger Erwerbsbiographien teilt, stellt sich grundsätzlich die Frage, ob die gesetzliche Rentenversicherung das geeignete System ist oder nicht ein anderes treffsicherer wäre. Denn die Höhe der gesetzlichen Rente ist selbst bei einer lückenlosen Erwerbsbiographie noch kein hinreichendes Indiz für drohende Altersarmut. Denkbar sind Konstellationen, in denen andere Einkommen oder Vermögen existieren, die trotz geringer gesetzlicher Rente für eine (mehr als) ausreichende Absicherung im Alter sorgen. Außerdem bleibt die intrafamiliäre Arbeitsteilung unberücksichtigt. Wer zum Beispiel ein Leben lang auf Teilzeit gesetzt hat, weil er seine Alterssicherung gemeinsam mit seinem Vollzeit beschäftigten Partner geplant hat, für den ist die Aufstockung nicht gedacht. Unerwünschte Mitnahmeeffekte lassen sich nur ausschließen, wenn die Gewährung der Zuschuss-Rente an eine Bedürftigkeitsprüfung gekoppelt wird, die das gesamte Haushaltseinkommen berücksichtigt – so wie es auch bei anderen Grundsicherungsleistungen üblich ist. Die Bundesregierung schlägt zumindest vor, analog zur Regelung der Hinterbliebenenversorgung sowohl das eigene als auch das Partnereinkommen vollständig zu berücksichtigen. Auch dies sollte Eingang ins Gesetz finden.
  • Aus anreiztheoretischer Sicht bietet das Konzept der Zuschuss-Rente gleichwohl auch Positives. Denn sie liefert das Signal, dass sich Erwerbstätigkeit lohnt – auch dann, wenn man ob der geringen Verdienstchancen kaum Aussichten auf eine Alterssicherung oberhalb des Grundsicherungsniveaus hat. Wenn man diesem Gedanken folgt, sind aber die oben genannten Bedingungen zu beachten – die Finanzierung aus Steuermitteln sowie die Koppelung des Anspruchs an eine umfassende Einkommensprüfung.

2. Anpassung der Erwerbsminderungsrente sinnvoll:

  • Die Anhebung der Altersgrenze für die Ermittlung der Zurechnungszeiten im Erwerbsminderungsfall ist sozialpolitisch geboten. Denn grundsätzlich will der Gesetzgeber mit dem Berechnungsverfahren sicher stellen, dass ein Versicherter, der nicht mehr oder nur noch eingeschränkt erwerbstätig sein kann, beim Bezug der Altersrente so gestellt wird, als wäre er bis zum frühestmöglichen Verrentungszeitpunkt berufstätig gewesen. Wenn nun mit dem Übergang zur „Rente mit 67“ die Regelaltersgrenze verschoben wird, würde bei unveränderten Zurechnungszeiten der Erwerbsminderungsfall relativ schlechter gestellt, weil gesunde Versicherte bis zu zwei Jahre länger Beiträge zahlen und entsprechende Rentenansprüche begründen. Das wäre aber nicht im Sinne des Gesetzgebers und deshalb ist die Anhebung der Grenze für die Ermittlung der Zurechnungszeiten nur konsequent.

3. Kombirente grundsätzlich gute Idee, aber missbrauchsanfällig:

  • Das Konzept der Kombirente ist als ein Weg zur Gestaltung eines flexiblen Übergangs in den Ruhestand grundsätzlich zu begrüßen. Schon heute besteht die Möglichkeit, nicht nur die volle Rente unter Inkaufnahme von Abschlägen zu beziehen, sondern die anteilige Auszahlung vor Erreichen der Regelaltersgrenze zu beantragen. Parallel dazu kann man in reduziertem Umfang weiterhin erwerbstätig sein und so den Lebensunterhalt aus Teilzeitverdienst und Teilrente bestreiten. Allerdings ist der vorzeitige Teilrentenbezug bislang auf 1/3, 1/2 oder 2/3 des bis dahin erreichten Rentenanspruchs normiert und zudem an Hinzuverdienstmöglichkeiten gekoppelt. Deren Berechnung ist wiederum an die im Sozialrecht definierte Bezugsgröße, an vorgegebene Multiplikatoren sowie an die individuellen Rentenfaktoren gebunden. Im Ergebnis ist das Verfahren intransparent und erscheint zumindest in Konkurrenz zu anderen Übergängen etwa im Rahmen der Altersteilzeit bislang wenig attraktiv.
  • Wenn nun im Zuge des Rentendialogs vorgeschlagen wird, dass Rentenhöhe und Zuverdienst frei wählbar sind und der Hinzuverdienst lediglich auf die Höhe des zuletzt erreichten Bruttoeinkommens beschränkt wird, dann trägt das zwar dem Gebot der Vereinfachung und Transparenz Rechnung. Gleichwohl drohen unerwünschte Mitnahmeeffekte. Denn der Gesetzgeber hat die Hinzuverdienstgrenzen ursprünglich nicht aus Willkür definiert, sondern vor dem Hintergrund, dass mit der Regelaltersgrenze auch eine Norm verbunden ist, bis zu welchem Alter Versicherte unter vollem Einsatz ihrer Arbeitskraft Beiträge in das umlagefinanzierte Rentenversicherungssystem zahlen sollen. Diese implizite Norm wird mit dem Übergang zur „Rente mit 67“ sogar noch verschärft. Deshalb ist mit der Lockerung der Hinzuverdienstgrenzen unbedingt darauf zu achten, dass es nicht zu Anreizen kommt, die das Ziel der verlängerten Erwerbs- und Beitragszeit konterkarieren respektive zu einer missbräuchlichen vorzeitigen Inanspruchnahme der gesetzlichen Alterssicherung kommt.
  • Das ist immer dann der Fall, wenn die Abschläge so bemessen sind, dass sie nicht die monetären Anreize zum vorzeitigen (oder späteren) Rentenbezug vollständig neutralisieren. Technisch gesprochen, gilt es also Konstellationen zu vermeiden, in denen der Barwert der in Kauf zu nehmenden Rentenabschläge geringer ausfällt als der Barwert der zu erwartenden Hinzuverdienste. Die Tatsache, dass das tatsächliche Rentenzugangsalter bislang deutlich hinter der Regelaltersgrenze zurück bleibt, mag bereits ein Indiz dafür sein, dass der gesetzliche Abschlag zu überprüfen ist. Mit Blick auf die aktuelle Diskussion wäre alternativ zu überlegen, ob es nicht ausreicht, die Hinzuverdienstgrenzen für die gesetzlich definierten Teilrentenmodelle einfacher zu gestalten. Damit würde die bestehende Regelung zur Gestaltung eines gleitenden Übergangs in den Ruhestand transparenter, aber gleichzeitig den versicherungstechnischen Vorgaben Rechnung getragen.

Die hohen Schulden einiger Mitgliedsstaaten haben den Euro-Raum in eine schwierige Situation gebracht, deren Ende noch nicht abzusehen ist. Auch wenn nicht der Euro selbst in der Krise ist, kann die Schuldenkrise zu einer langfristigen Abschwächung der wirtschaftlichen Perspektiven führen. Um dies zu verhindern, werden in der Politik verschiedenste Lösungsansätze diskutiert, die von der Einrichtung einer gemeinsamen Wirtschaftsregierung über verfassungsrechtliche Schuldenbremsen bis zu einer geordneten Insolvenz von Staaten reichen.

Zu diesem Themenkomplex wurden für das vorliegende IW-Expertenvotum 96 Professoren für Wirtschaftswissenschaften, die in Deutschland tätig sind, befragt. Die Befragung fand Ende September 2011 statt.

Die zentralen Ergebnisse lauten wie folgt:

  • Die Experten sprechen sich mehrheitlich gegen eine gemeinsame Euro-Wirtschaftsregierung aus: 60 der 96 befragten Experten sind gegen die Einrichtung einer solchen Instanz, während 33 dafür sind. Die restlichen drei Experten enthalten sich.
  • Uneinig sind sich die Experten im Hinblick auf eine gemeinsame Fiskalpolitik der Euro-Staaten: 44 von ihnen sprechen sich dafür aus, 52 dagegen.
  • Gemeinschaftliche Anleihen („Euro-Bonds“) werden nahezu einhellig abgelehnt: 81 Experten sind gegen ihre Ausgabe, 14 Experten dafür. Ein Experte enthält sich.
  • Nahezu einhellig ist auch die Meinung zu einer Schuldenbremse: 81 der 96 Experten sind dafür, dass alle Euro-Staaten eine Schuldenbremse in ihre Verfassung aufnehmen sollten. 14 Experten sind dagegen und ein Experte enthält sich.
  • 76 Experten sind der Ansicht, dass die EZB keine Anleihen hochverschuldeter Euro-Staaten ankaufen sollte, um zu deren Stabilisierung beizutragen. 17 Experten hingegen sprechen sich dafür aus, während sich drei Experten enthalten.
  • Geteilt sind die Meinungen zur Einrichtung des dauerhaften Euro-Rettungsschirms (ESM): 44 Experten halten dies für sinnvoll, 50 hingegen nicht. Zwei Experten vertreten hier keine Position.
  • Allerdings sind die Experten mehrheitlich der Ansicht, dass unter dem ESM die Möglichkeit einer „geordneten Insolvenz“ in Betracht gezogen werden sollte: 80 Experten sprechen sich für dieses Instrument der Schuldenbewältigung aus. 11 Experten sind dagegen und fünf enthalten sich.

Zusammenfassend weisen die geäußerten Meinungen darauf hin, dass Maßnahmen gegen die Schuldenkrise im Euro-Raum darauf ausgerichtet sein müssen, die Wettbewerbsfähigkeit der Staaten bzw. Standorte zu sichern und zu erhöhen. Die Zentralisierung von Entscheidungskompetenzen und die Vergemeinschaftung von Schulden werden dabei von den meisten Experten nicht als probates Mittel angesehen. Eher geeignet ist der überwiegenden Meinung zufolge beispielsweise eine Schuldenbremse auf Verfassungsrang.