Gemeinsam stark
Wolfgang Clement zum Coronavirus

Wie das Virus unsere Welt verändert

In einem sind sich alle Experten einig: Das Coronavirus stellt Deutschland und die EU vor eine der größten wirtschaftlichen Krisen in der jüngeren Geschichte. Der ehemalige Bundesminister für Wirtschaft und Arbeit, Wolfgang Clement, zeigt in seinem Gastbeitrag auf, welche Wachstumsbremsen in Deutschland jetzt gelockert werden müssen und wie wir auf EU-Ebene Solidarität beweisen, ohne Haftungsprinzipien zu vernachlässigen.

14. April 2020

Es stimmt, Krisen wie diese sind die Stunden der Exekutive. Die Bundesregierung hat es in der 13. Woche dieses Jahres vorgeführt. In einer Kabinettsitzung am Montag (23.03.), einer Plenarsitzung des Deutschen Bundestags am Mittwoch (25.03.) und einer Bundesratssitzung am Freitag (27.03.) hat sie einen Nachtragshaushalt mit einer Neuverschuldung von rund 156 Milliarden Euro (etwa 40 Prozent des laufenden Bundeshaushalts) zunächst selbst beschlossen und dann über die parlamentarischen Hürden gehoben. Mit diesen Mitteln für Zuschüsse, Bürgschaften oder zinsgünstige Darlehen soll ein im „Shutdown“ drohender Absturz der deutschen Wirtschaft verhindert werden. Dazu sind ein Rettungsschirm in Höhe von 600 Milliarden Euro für Unternehmen, die im Zuge der Talfahrt notleidend werden, und weitere 450 Milliarden Euro für einen Garantierahmen der Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW) vorgesehen. Für die Zustimmung zu diesem Potenzial an Staatshilfen in Höhe von insgesamt mindestens 1,2 Billionen Euro reichten dem Deutschen Bundestag eine kurze Debatte (ohne vorausgehende Beratung in den Fachausschüssen) und dem Bundesrat sogar eine viertelstündige Sitzung ohne Aussprache.

So viel Staat war – fast – noch nie. In den gut 150 Jahren deutscher Industriegeschichte hat es – mit Ausnahme von Nazi- und SED-Zeiten – keine Phase gegeben, in der die Exekutive so viel – allerdings befristeten – Einfluss auf das gesellschaftliche, soziale und wirtschaftliche Leben im Land genommen hat wie jetzt in der Corona-Krise. „Wir gehen in die Vollen“, und jetzt werde „geklotzt und nicht gekleckert“, so versucht Olaf Scholz der deutschen Wirtschaft im Zeichen einer drohenden schweren Rezession Mut zu machen, nachdem er ihr in den wirtschaftlich guten Jahren zuvor jegliche im internationalen Wettbewerb dringend notwendigen Steuerentlastungen verweigert hatte.

Auf den ersten Blick beruhigend könnte demgegenüber der Schuldentilgungsplan zum Nachtragshaushalt wirken. Er sieht vor, die über die Schuldenbremse hinausgehenden 100 Mrd. Euro des Nachtragshaushalts ab 2023 innerhalb der nächsten 20 Jahre mit jährlich fünf Milliarden Euro zurückzuführen. Das erscheint angemessen, unterstellt aber, dass sich die der heutigen Koalition ab 2021 nachfolgenden Regierungen daran halten – und tatsächlich den gern zitierten Lehrsatz der schwäbischen Hausfrau beherzigen, dass erst erarbeitet werden muss, was später ausgegeben werden kann. Mit anderen Worten: Die von der jetzigen Koalition praktizierte und über ihre eigene Amtszeit hinaus prolongierte Renten- und Sozialpolitik, die schon jetzt nahezu 55 Prozent des Bundeshaushalts in Anspruch nimmt, wird zur Gefahr für den Neuanfang. Denn „nach Corona“ muss es darum gehen, die Wettbewerbsfähigkeit namentlich der deutschen Industrie so rasch wie möglich wieder herzustellen. Es sollte deshalb kein Weg mehr daran vorbeiführen: Eine niedrigere Unternehmensbesteuerung, die vollständige Abschaffung des Soli und eine Absenkung unserer Energiepreise werden damit unabdingbar. „Innovation geht vor Subvention“ – der Satz gehört „nach Corona“ endlich in die praktische Anwendung.

Wenig überraschend erscheint, dass der Nachtragshaushalt auch die Ermächtigung enthält, sich mit bis zu 100 Milliarden Euro direkt an Unternehmen in Schieflage zu beteiligen. Das Modell stammt aus der Zeit der großen Finanzkrise, als der Bund sich mit 15 Prozent an der Commerzbank beteiligte. Es war für den Notfall gedacht, existiert aber immer noch. Langfristige staatliche Beteiligungen an Kernbranchen – um nicht von Verstaatlichungen zu reden, die jetzt in so manchen Zirkeln wieder akut werden –, sind in Zeiten der „Deglobalisierung“ offensichtlich auch in Berlin kein Tabu mehr. Wer darüber nachdenkt, was nach dem „Shutdown“ werden mag, tut deshalb gut daran, sich auf das zu besinnen, was unser Land stark gemacht hat: Es war gerade der Abschied vom vermeintlich starken Staat und die Hinwendung zu denen, die auf die eigenen Kräfte setzten, auf die Grundregeln der Sozialen Marktwirtschaft. Das mag in Zeiten wie jetzt in der Corona-Krise, in denen „der Staat“ nur allzu viel regelt und reguliert, auch in der öffentlichen Wahrnehmung etwas verblassen. Es gehört jedoch seit den Verträgen zur deutschen Einheit zur verfassungsmäßigen und politischen Grundausstattung unseres Landes. Staatliche Allmachtsfantasien sollten deshalb hierzulande per se keine Chance mehr haben. Niemand sagt das treffender als Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier 2018 in einem Spiegel-Interview: Der Staat ist ein lausiger Unternehmer.

Diese Pandemie ist eine Prüfung für die Weltgemeinschaft und erst recht für das gemeinsame Europa. Deshalb kann man nur bedauern, dass so gut wie sämtliche Mitgliedstaaten der EU, kaum dass ihre Regierungen das Virus realisierten, sofort wieder Grenzkontrollen aufnahmen. Österreich machte den Anfang, alle anderen – auch wir  – folgten. Und Deutschland blamierte sich mit einer Fehlleistung sondergleichen, als wir anfangs eine Bitte aus Italien um Beatmungsgeräte und Schutzmasken ignorierten. Man schämte sich fürs eigene Land! Umso wichtiger war und ist es, dass wir in der Zwischenzeit – wie die Aufnahme von schwerkranken Corona-Patienten aus Italien und Frankreich in hiesigen Krankenhäusern zeigt – offensichtlich verstanden haben, wie europäische Solidarität konkret geht.

Prominente deutsche Ökonomen, unter ihnen der Direktor des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) Michael Hüther und das langjährige Mitglied der deutschen Wirtschaftsweisen Peter Bofinger, haben in diesen von „Corona“ beherrschten Tagen einen beschwörenden Appell an die europäische Öffentlichkeit gerichtet. „Jetzt ist der Moment“, hieß es darin, „wo die oft beschworene Schicksalsgemeinschaft Europa Flagge zeigen muss.“ Wie wahr! Und wie enttäuschend die Quintessenz dieses Aufrufs. Denn sie lautet – kurz zusammengefasst –, dass Europa „jetzt finanziell zusammenstehen“ und ein „starkes Zeichen der Solidarität und Risikoteilung setzen“ müsse, was wiederum Gemeinschaftsanleihen – sogenannte „Corona-Bonds“ – erfordere, um die Kosten dieser Krise, die unverschuldet über die einzelnen Mitgliedstaaten gekommen sei, aber reichere Staaten weniger belaste als die schwächeren in Europas Süden, auf alle Schultern zu verteilen.

Die Schwäche dieser Forderung: Wir kennen sie schon, und zwar zu Genüge. Bundeswirtschaftsminister Altmaier hat die Gelegenheit dieses und anderer Appelle – etwa des spanischen Ministerpräsidenten Sanchez nach einem „neuen Marshallplan für Europa“ – denn auch genommen, um einer Neuauflage der innereuropäischen Auseinandersetzungen um Gemeinschaftsanleihen, diesmal „Corona-Bonds“ genannt, möglichst rechtzeitig den Wind aus den Segeln zu nehmen. Die Diskussion um Europa- bzw. Corona-Bonds sei „eine Gespensterdebatte“, sagte er dem „Handelsblatt“. Er rate „zur Vorsicht, wenn angeblich neue, geniale Konzepte präsentiert werden, die häufig genug Wiedergänger längst verworfener Konzepte sind“. Es sei wichtiger, die Wettbewerbsfähigkeit in Europa zu stärken.

Recht hat er, aber genützt hat’s offensichtlich nicht. Der Druck, der inzwischen von Politikern – auffallend oft auch nicht mehr aktiven deutschen Politikern –, von Ökonomen und Medienleuten jeglicher Herkunft in Richtung Euro-Bonds aufgebaut wird, ist immens. Ihnen scheint die Rechtsprechung unseres Bundesverfassungsgerichts zur „Konkordanz von demokratischer Entscheidungskompetenz und haushaltspolitischer Folgenverantwortung“ (Prof. Udo di Fabio, FAZ 6. April 2020) nicht präsent, wie es auch die 1993 von Deutschland geforderte No-Bailout-Klausel im EU-Vertrag zum Ausdruck bringt. Keine deutsche Bundesrgierung dürfte das ignorieren – was sich eigentlich auch bis Brüssel, Paris, Rom und Madrid herumgesprochen haben müsste. Doch parallel kommen die vorhandenen Instrumente zur Krisenverhinderung bzw. Krisenbewältigung nicht so gut weg, wie sie es verdient hätten. Unter anderem weist der in Zürich lehrende Ökonom Kai Gehring völlig zu Recht darauf hin, dass der Europäische Stabilitäts-Mechanismus (ESM) erstaunlich flexibel und unkompliziert ist. So erlaubt die Öffnungsklausel in Artikel 19 des ESM-Vertrags, dass die Liste der Programme, die der ESM finanziert, beliebig erweitert werden könne. Auch die Konditionen, zu denen das Geld vergeben wird, könne auf ein Minimum beschränkt werden. Die Rekapitalisierung von notleidenden Banken durch den ESM würde zudem nicht die Schuldenquote der Ansässigkeitsstaaten erhöhen. Schließlich ist auch die Europäische Investitionsbank bereits tägig geworden. Sie will mit einem Soforthilfepaket bis zu 200 Milliarden Euro mobilisieren. Der Griff in die politische Mottenkiste ist wahrhaftig nicht nötig.

Das Coronavirus, das keine Grenzen kennt, wird auch die Politik verändern und „mehr Europa“ erzwingen. Er wird uns auch mehr Solidarität abverlangen. Das ist richtig. Das gemeinsame Ziel muss sein und bleiben, alle zu unterstützen, die mit „Corona“ unverschuldet in eine Krise gerutscht sind oder zu rutschen drohen. Aber Entscheidungskompetenz und Haftung müssen zusammenbleiben, alles andere wäre verantwortungslos. Genügend Instrumente, um unter der Pandemie besonders leidenden Mitgliedstaaten beispringen zu können, gibt es. Der Druck, sie nun auch einzusetzen, wird wachsen und am Ende unwiderstehlich sein. Und das ist auch gut so.

Ein Gastbeitrag von Wolfgang Clement

Wolfgang Clement

Bundesminister für Wirtschaft und Arbeit a.D. und Kuratoriumsvorsitzender der INSM