Die Menschen
„Wenn ich schwach bin, …“

Erzbischof Stephan Burger

Lesen Sie den Erzbischof Stephan Burger Artikel „Wenn ich schwach bin, bin ich stark.“ in „Das Deutschland-Prinzip“.

14. Juli 2015

Dieser Beitrag erscheint im Original im Buch „Das Deutschland-Prinzip“. Im Buch erörtern 175 prominente Gastautoren Ihre Standpunkte darüber, was  Deutschland stark macht.
Lesen Sie hier eine Auswahl der Beiträge.

 

„Wenn ich schwach bin, bin ich stark.“

Der Satz des Apostels Paulus „Wenn ich schwach bin, bin ich stark“ (2 Kor 12, 10) erscheint paradox. Nicht umsonst nennt man die Passage aus dem 2. Brief an die Korinther im Neuen Testament, dem er entstammt, auch die Narrenrede des Paulus. Doch paradox ist er nur auf den ersten Blick. Denn er formuliert die tiefste Erfahrung des Glaubens, alles Gott allein zu verdanken, auch die eigene Leistung.

Auch Deutschland war nie so stark wie in jenem Moment der tiefsten Niederlage vor 70 Jahren, als aus der Besinnung nach der Katastrophe die Ordnung des Grundgesetzes entstand mit dem unaufhebbaren Bekenntnis zur unantastbaren Würde des Menschen (Art. 1 Abs. 1 GG) und einer Wirtschaftsordnung, die grundsätzliche Freiheit mit den zum Schutz der Schwachen erforderlichen Ordnungen verband.

Anlass zum Selbstlob gibt es heute kaum. Es genügt, ein wenig an der Oberfläche des Erfolgs zu kratzen, um vielfach Brüchiges aufzudecken: von der immer weiter geöffneten Schere zwischen Arm und Reich, zwischen Arbeitseinkommen und Profiten aus Kapitalerträgen über den prekären Cha- rakter zahlloser Arbeitsverhältnisse bis hin zu dem zerstörerischen Konkurrenzdruck. Und das Elend der Flüchtlinge erinnert an die weltweite Armut, die auch ein Preis unseres Wohlstands ist.

Als man vor 70 Jahren an den Wiederaufbau ging, waren es die christlichen Traditionen des Landes, die zum Erfolg geführt haben: Die absolute Menschenwürdegarantie ist nur aus dem biblischen Glauben zu begründen. Und die Leitideen der klassischen Sozialen Marktwirtschaft sind die Prinzi- pien der katholischen Soziallehre Solidarität, Subsidiarität und Gemeinwohl.

Gerade eine im Interesse der Freiheit und des Wohlergehens aller erheblich regulierte Wirtschaftsverfassung hat also die Grundlagen des Wohlstands gelegt. Wollen
 wir auf Dauer ökonomisch stark bleiben, müssen wir uns heute und immer wieder die vermeintliche Schwäche einer neuen Besinnung und eines neuen Ansetzens bei diesen Grundlagen leisten – Grundlagen, die die Wirtschaft sich nicht selbst gibt.

Wir müssen den Mut haben, Konsequenzen zu ziehen im Sinne eines gerechten Ausgleichs, einer gerechten Verteilung der Güter und der Schaffung eines Ordnungsrahmens, der auch den Schwachen ein gutes Leben ermöglicht. Ökonomie ist dazu da, die Menschen mit Gütern und Dienstleistungen zu versorgen, die dem Leben dienen. Mehr nicht. Wo sie nur noch ihren inneren Gesetzmäßigkeiten folgt oder sich gar zum allgemeinen Ordnungsrahmen aufschwingt, wird sie zur Gefahr wie jedes System, das sich verabsolutiert.

Grundlagen und Ziele ändern sich nicht. Und sie haben sich schon einmal bewährt. Warum sollten sie es nicht wieder tun? Aber wir müssen den Autopiloten ausschalten und das Steuer selbst in die Hand nehmen, um wieder die Kontrolle zu gewinnen über ein ökonomisches System, das sich längst selbständig gemacht hat. Nein, wir brauchen keine neue Soziale Marktwirtschaft. Wir brauchen überhaupt eine! Eine, die diesen Namen verdient.